Eine Streitschrift und eine Polemik ist Melanie Möllers neues Buch: Für eine wilde, freie, aufmüpfige Literatur und gegen woke, moralische, politisch korrekte Attacken auf die Literaturgeschichte. Die Altphilologin vertraut auf Kenntnis und Vernunft von Leserinnen und Lesern. Ein anregender und gelehrter Essay – der zugleich Teil jener aufgeregten Debatte ist, gegen die er sich richtet.
Zum Signum unserer Zeit gehört, dass fast jedes Thema enormes Erregungspotential besitzt und mindestens aufgeblasen wird zu einem Weltuntergangsmenetekel. Da verschiedene Diskursteilnehmer die Deutungshoheit beanspruchen, eskalieren Debatten schnell, werden regelrecht zu Battlegrounds, auf denen der Untergang des Abendlands verhindert oder befördert werden soll, je nachdem. Die Kultur bot in den letzten Jahren dafür einiges Anschauungsmaterial, und einen besonderen Kampfort bildete die Sprache.
Die Stichworte dürften allen kulturell Interessierten geläufig sein: gendergerechtes Sprechen, Cancel Culture, Sensitivity Reading, Political Correctness, sogenannte „Säuberung“ von Klassikern. Die Progressiven werfen den auf Werktreue Beharrenden auf subtile Weise Rassismus vor – etwa, wenn letztere gegen die Tilgung des N-Worts in Kinderbüchern wettern. Konservative befürchten entstellende Eingriffe oder Geschichtsklitterung. Canceln sei ein Kampfbegriff der Rechten, sagen die einen; Canceln sei reale Praxis von linken Eiferern, sagen die anderen.
Ein zuspitzender Essay über die „Änderwütigen“
Inzwischen wird die Diskussion nicht mehr nur in Hochschulseminaren und im Feuilleton geführt, sondern auch in Büchern. Das jüngste schlägt sich ganz auf die Seite jener, die eine übermütige woke Gesinnungsdiktatur am Werk sehen: Melanie Möllers Band „Der entmündigte Leser“. Ihren Essay versteht sie als Plädoyer für die „Freiheit der Literatur“.
Melanie Möller ist Altphilologin; sie kann ihren Blick also sehr weit zurück bis in die Antike schweifen lassen, um ihn von dort mit einer gewissen Abgeklärtheit wieder auf aktuelle Texte zu werfen. Wobei, abgeklärt ist vielleicht nicht der erste Begriff, der einem einfällt, wenn man Möllers Streitschrift liest – zuspitzend würde wohl eher passen. Gleich in der Einleitung spricht sie von den „Änderwütigen“, die sich…
Zurückgreifend auf klassische Texte von Homer bis Ovid, die sie mit modernen Klassikern etwa Louis Ferdinand Célines, Joseph Brodskys oder auch Astrid Lindgrens verknüpft, möchte sie mit ihrem Buch auf fortdauernde Versuche der Umarbeitung, Verkürzung oder Veränderung aufmerksam machen.
Ambivalenzen zulassen, verharmlosende Lesarten vermeiden
Sie begreift das als Zensur. Es gehe aber darum, so Möller, Ambivalenzen zuzulassen, simple, weil zugleich verharmlosende Lesarten zu vermeiden. Auch sollten nicht, wie sie es nennt, „Überempfindlichkeiten“ zum Maßstab für eine zu Einsicht und Einordnung fähige Leserin gemacht werden.
Möller wendet sich nicht zu Unrecht gegen die Gleichsetzung literarischer Inhalte und Figuren mit den Positionen von Autoren, etwa wenn es um den männlichen Blick eines römischen Elegikers wie Sextus Propertius bis hin zu dem von Goethe geht: Frauen seien hier selbstverständlich künstlerische Objekte der Lust, und es gebe weder Grund für Mitleid noch Anlass zur Sorge. Diese Künstlichkeit scheine, so Möller, den Damen allerdings zum Verhängnis zu werden, zumal sofern sie der Phantasie männlicher Dichter entsprungen seien.
"Denn, so fragt sich die Frau von Bildung und gesellschaftlicher Verantwortung, wie können diese frustrierten Typen (Properz, Catull, Ovid), die wider besseres Wissen zu einer Einheit aus Dichter als historischer Person und elegischem Ich verschmolzen werden, es wagen, ein erfundenes Mädchen zum Lustobjekt zu degradieren und dabei weitgehend mundtot zu machen? Damit sind sie mindestens schlechte Vorbilder für alle Einfaltspinsel unter den Lesern (und für jegliche illiteraten Gewalttäter, was wohl, mit Blick auf die Jahrhunderte, für die meisten gelten dürfte). Dies die Mutmaßungen der jüngeren, vor allem, aber nicht ausschließlich weiblich motivierten Forschung zur antiken Liebeselegie, die den male gaze enttarnen, in seine Schranken weisen und seinen armen Opfern helfen möchte.“
Möller reagiert geradezu wütend auf diese unliterarischen Mutmaßungen. Einerseits. Andererseits prangert sie unhistorische Lesarten von selbsternannten Sprachpolizisten an – also den Umstand, dass aus einer heutigen, moralisch vermeintlich überlegenen Warte über Texte der Stab gebrochen wird, die von ihrer Zeit geprägt sind oder damals sogar als fortschrittlich galten. Über Texte, die eine genauere Lektüre erforderlich machten, um über sie urteilen zu können.
Auf die Vernunft und Kenntnis von Lesern vertrauen
Beide Punkte sind richtig. Und Möller ist hoch anzurechnen, dass sie es nicht bei dieser pauschalen Kritik an der Wokeness-Fraktion belässt, sondern sich die Mühe tiefgehender Interpretationen macht, an vielen Beispielen Missverständnisse und historische Errungenschaften aufzeigt, mithin auf die Vernunft und Kenntnis von Leserinnen und Lesern vertraut, die eben nicht entmündigt werden sollten.
Was Melanie Möller aber doch vorgeworfen werden darf: An vielen Stellen hat man das Gefühl, dass sie einen Popanz errichtet – so, als würde es ein hegemonial gewordenes Bündnis von moralinsauren Besserwissern geben, das inzwischen dabei ist, ganze weltliterarische Bibliotheken umzuschreiben oder unwiderstehlichen Druck auf Verlage und Wissenschaftlerinnen auszuüben. Beispiele für solchen Übereifer gibt es, gewiss.
Es werden auch einzelne Protagonisten aus dem akademischen Betrieb zitiert, die vielleicht über das Ziel hinausschießen, aber so ist das nun mal in einem heterogenen kulturellen Feld.
Historische Texte brauchen Kommentierungen mit Blick auf heutige Sichtweisen
Dass aber erstens jede Zeit neu auf ältere künstlerische Erzeugnisse blickt, diese mit der Gegenwart abgleicht, auch radikale Ablehnung zum Ausdruck bringt – das ist kein Phänomen der letzten Jahre, und es ist dagegen auch wenig einzuwenden. Dass zweitens unter dem Druck sogenannter „Gutmenschen“ tatsächlich Bücher umgeschrieben würden – das müsste erst einmal bewiesen werden. Von einzelnen, gut begründeten Fällen abgesehen, vornehmlich im Kinderbuchbereich, ist da wenig bekannt geworden.
In puritanisch-reaktionären Bundesstaaten der USA landen Klassiker aufgrund ihres Inhalts zuweilen auf dem Index – in den meisten westlich-liberalen Ländern kommt das zum Glück sehr selten vor. Klassische oder historische Texte bedürfen immer wieder für ihre Zeit einer Kommentierung; diese nimmt Rücksicht auf veränderte Sichtweisen, etwa bezüglich Kolonialismus oder Ausgrenzungspraktiken der Vergangenheit.
Das ist noch kein Grund zur Klage. Im Gegenteil. Es kann sogar dabei helfen, das Vergangene besser und in seiner historischen Bedingtheit zu verstehen. Alles in allem: Melanie Möllers mitunter polemisch scharfes Buch ist ohne Zweifel anregend und gelehrt – aber es ist eben auch Teil jener oft unangemessen erregten Debatte, gegen die es sich richtet.
Gespräch „Ohne Triggerpunkte gibt es keine Auseinandersetzung“ – Christoph Peters zur Debatte um Koeppen-Lektüre im Lehrplan
Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ auf dem Lehrplan der baden-württembergischen Gymnasien: Lektüre, die eine Rassismus-Debatte anstieß. Autor Christoph Peters ist Koeppen-Kenner. Was sagt er zur Diskussion?
Alexander Wasner im Gespräch mit Christoph Peters.
SWR2 lesenswert Kritik Konrad Paul Liessmann – Lauter Lügen und andere Wahrheiten
Politik und Moral, Kultur und Zensur, Freund und Feind, Winnetou, der Weltuntergang - das sind nur einige der Themen, mit denen sich Konrad Paul Liessmann in "Lauter Lügen" auseinandersetzt, geistvoll und mit Entschiedenheit zugleich.
Paul Zsolnay Verlag, 254 Seiten, 26 Euro
ISBN 978-3-552-07342-5