Ballett bestimmt das Leben der Schwestern Durant, seit sie Kinder waren. Doch dann spült ein Brand in der Ballettschule den Bauunternehmer Derek in ihr Leben - und er zertrümmert nicht nur die morschen Böden der Tanzsäle, sondern treibt auch einen Keil zwischen die Schwestern. Ballett und Thriller sind eine gewagte Kombination, die aber in Megan Abbotts perfekt choreografiertem Spannungsroman „Aus der Balance“ aufgeht.
Aus dem Englischen von Karen Gerwig und Angelika Müller
Pulp Master Verlag, 330 Seiten, 16 Euro
ISBN 978-3-94658-216-8
Megan Abbott wurde 1971 in der Autostadt Detroit geboren. Nach ihrem Studium hatte sie Lehraufträge an verschiedenen Universitäten und veröffentlichte vor knapp 20 Jahren ihren ersten Roman. Vor 10 Jahren gab es eine erste Übersetzung ins Deutsche und jetzt in kurzer Folge zwei weitere. Ihr heuer Roman heißt: „Aus der Balance“ – Sonja Hartl.
Dara und Marie sind Schwestern. Seit dem mysteriösen Unfalltod ihrer Eltern in einer Blitzeisnacht vor zehn Jahren führen sie die mütterliche Ballettschule Durant. Dort verkaufen sie gemeinsam mit Daras Mann Charlie den in rosa Tüll gehüllten Traum vom grazilen Ballerina-Ruhm. Höhepunkt eines jeden Jahres sind die Weihnachtsaufführungen von Tschaikowskys „Nussknacker“ – für die Hauptrollen würden die ehrgeizigen Ballettschülerinnen und -schüler alles tun. Doch in diesem Jahr bringt ein Brand in der Schule die sorgsam errichteten Routinen und Abläufe ins Wanken. Der Bauunternehmer Derek wird mit den Renovierungsarbeiten beauftragt. Aber er zertrümmert nicht nur kaputte Wände und morsche Böden, sondern treibt auch einen Keil zwischen die Schwestern und Charlie.
Von der ersten Seite des perfekt choreographierten Ballettthrillers „Aus der Balance“ an treibt Megan Abbott ein raffiniertes Spiel mit Gegensätzen: Dara ist kühl, streng und kontrolliert; Marie ist gefühlvoll und sanft. Mit Derek tritt rohe, brachiale Gewalt in die gezügelte, disziplinierte und nach außen makellose Ballettwelt der Schwestern, die von Madame Durant bis zur Perfektion gedrillt und zu Hause unterrichtet wurden. Und als Marie sich auf eine Affäre mit Derek einlässt, beginnt sie, das enge Korsett aus Ritualen und Manipulationen abzustreifen.
Diese Affäre bringt die Erzählerin Dara „aus der Balance“ und sorgt für Flashbacks: an die brutalen Streitereien der Eltern, die übergriffige Mutter, die einst Charlie ins Haus holte und ihren Töchtern regelrecht überlassen hat, den einen Versuch, der mütterlichen Kontrolle zu entfliehen. Nun ist es Dara, die versucht, die Kontrolle zu behalten. Aber auch sie wird von Derek zunehmend in die Enge getrieben. Sie ist überzeugt, er verfolgt eigene Absichten, aber ihre Schwester ist blind vor Leidenschaft.
Aus den vagen Erinnerungen, den Andeutungen, den Gegensätzen von Stärke und Zerbrechlichkeit, Kontrolle und Leidenschaft entsteht die Spannung in diesem düsteren Roman, den eine Atmosphäre des Verfalls durchzieht: Die Ballettschule, das Wohnhaus der Schwestern und der durch das harte Training geschundene Körper von Charlie sind Ruinen, die gerade so noch aufrecht stehen können. „Aus der Balance“ ist inspiriert von Schauerromanen der Romantik und den britischen Gothic Novels. Am Ende liegt nicht nur ein Haus, sondern auch eine Familie in Trümmern.
Megan Abbott blickt gnadenlos auf dysfunktionale Beziehungen und findet mit der Welt des Balletts ein großartiges Thriller-Setting. Hier schneiden sich die Ballettschülerinnen die Hornhaut von den zertanzten Füßen und legen die Rasierklinge einer unliebsamen Konkurrentin in die Spitzenschuhe, um selbst im Rampenlicht zu stehen. Dara ist überzeugt, dass der gnadenlose Drill des Körpers und die Verklärung des Schmerzes nur ein kleiner Preis für Vollkommenheit sind. Dadurch entsteht ein weiterer, kraftvoller Gegensatz: Diese disziplinierte Hingabe und Grausamkeit gegen den eigenen Körper beim Ballett kontrastiert die ungehemmte sexuelle Leidenschaft, mit der sich Marie von Derek erniedrigen lässt. Es sind die Körper von Mädchen und Frauen, die sich zur Verfügung stellen: als Projektionsfläche im Tutu oder als Befriedigungsmittel beim Sex. Megan Abbott prangert dies nicht an, aber sie erzählt psychologisch genau davon. Das ist grausam und empathisch zugleich.
„Aus der Balance“ zeigt mit sorgsam gezogenen Handlungsfäden, den komplexen Figuren und einer raffiniert-kunstvollen Prosa, warum Megan Abbott zu den besten Spannungsautorinnen der Gegenwart zählt. Leser:innen müssen allerdings bereit sein, sich gänzlich auf dieses Setting und vor allem die Atmosphäre einzulassen, die bisweilen in überdeutlichen Bildern beschrieben wird. Es ist ein typischer Megan-Abbott-Roman: Sie schreibt psychologische Spannungsromane, ihre Protagonistinnen sind fast immer Mädchen oder junge Frauen, die Verbrechen auf den ersten Blick harmlos. Ein Verschwinden oder hier: ein Brand, bei dem niemand stirbt. Deshalb mag es auf den ersten Blick verwundern, dass der Pulp-Master-Verlag sie als erste Autorin in sein kenntnisreiches Noir-Verlagsprogramm aufgenommen hat. Aber wie die anderen Pulp-Master-Autoren blickt Megan Abbott furchtlos in die Gesellschaft und seziert dazu die dunklen Seiten der Weiblichkeit. Psychologische Spannung der Extraklasse!