In einer Favela von Rio de Janeiro kämpft die Krankenschwester Márcia um das Leben ihrer in die Kriminalität abrutschenden Tochter - und träumt von ein bisschen Glück für sich selbst. In seiner Graphic Novel „Hör nur, schöne Márcia“ erzählt der brasilianische Zeichner einen Sozialkrimi in bonbonbunten Bildern.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Lea Hübner
Reprodukt Verlag, 128 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-95640-363-7
Marcello Quintanilha wurde 1971 geboren und ist einer der prominentesten Comic-Zeichner seiner brasilianischen Heimat, die über eine sehr vitale Comic-Szene verfügt. Genau wie Frankreich, wo sein neuestes Werk im letzten Jahr auf dem „Internationalen Comicfestival“ in Angoulême ausgezeichnet wurde: „Hör nur, schöne Márcia“ - Silke Merten.
Armut sieht trist aus – sollte man meinen. Zumal in den Armen-Vierteln von Rio de Janeiro. Sie bilden ein Gewirr von Treppen, Gassen und Stromleitungen, die die Hügel der Stadt überziehen, in blassem Braun, Grau und Weiß. Aber im neuen Comic des Brasilianers Marcello Quintanilha wird das Rio der Armen bunt wie Bonbons.
In seiner Graphic Novel „Hör nur, schöne Márcia“ taucht er die Stadt in satte Pastelltöne, mit gelegentlichen Tupfen von Neonfarben. Seine Hauptfigur, die Krankenschwester Márcia, hat zum Beispiel, wie viele andere Figuren im Comic fliederfarbene Haut und lila Haare. Der Himmel ist blassgrün, kann aber auch schon mal rosa oder gelb sein.
Und nicht nur der unbekümmerte Farbmix bricht mit Lese-Erwartungen. Quintanilhas Heldin ist nämlich gar keine Schönheit, sondern eine Frau von nebenan. Und – sie ist dick! Worüber man sich gar nicht genug freuen kann, wirken Comics weltweit doch sonst, als gäbe es nur schlanke, langbeinige Frauen.
Eine Heldin ist Márcia aber. Eine mit fast übermenschlicher Stärke. Im Krankenhaus kümmert sie sich liebevoll um die Patienten, hilft Freundinnen, wo sie kann und bietet, wenn es sein muss, Paramilitärs die Stirn. Nebenbei pflegt sie noch eine alte Demenzkranke.
Nur ihr Zuhause macht ihr Sorgen. Tochter Jaqueline, erstaunlich erwachsen für eine so junge Mutter wie Márcia, treibt sich mit Kriminellen herum. Als sie verhaftet wird und überraschend schnell auf Kaution freikommt, findet Márcia heraus, dass Jacqueline bereits Mitglied in einem Hehler-Ring ist. Um sie zu retten, tritt sie die Flucht nach vorn an. Dabei bringt sie sich selbst und ihren Lebensgefährten in Gefahr.
Damit wird „Hör nur, schöne Márcia“ vom Sozialdrama zum Krimi. Da diese ja immer auch Gesellschaftsporträts sind, entfaltet sich vor unseren Augen ein zwar quietschbuntes, aber doch präzises Bild des Brasiliens von heute. Hier ist die Politik nur ein Hintergrundrauschen des Alltags, angedeutet durch Sprechblasen von Politikern aus dem Fernsehen, die kurz die Dialoge der Figuren unterbrechen.
Bestimmt wird der Alltag vom Ringen um Normalität. Waffen und Drogenhandel sind in den Favelas ein gewohnter Anblick – und werden es auch für uns Lesende. Vor Verzweiflung retten die Geschichte die Bonbonfarben und Quintanilhas am Action-Film geschulte Bild-Komposition. Beides sorgt für Dynamik und Leichtigkeit.
Auch die sozialen Gegensätze nimmt der Zeichner präzise in den Blick. Die demenzkranke Dame, die Márcia pflegt, gehört zur gehobenen Mittelschicht. Der Blick vom Balkon ihres Luxus-Apartments ist entsprechend des sozialen Gefälles einer von oben nach unten. Nur von hier ist der Blick in die Weite möglich.
Ansonsten sind die Bilder vollgepackt mit Straßenleben, Menschen, Gebäuden – und mittendrin die Figuren. Ihr öffentliches Leben verknüpft Quintanilha geschickt mit ihren privaten Nöten. Weil er Gesichter oft in Nahaufnahme zeichnet, bekommen sie überraschende Tiefe. Angst und Zweifel zeigen alle. Auch die Gewalttätigen.
Selbst die scheinbar starke Márcia entpuppt sich als Romantikerin. Quintanilha lässt sie über eine CD mit brasilianischen Kunstliedern stolpern. Daher durchzieht ein Lied mit seinen schmachtenden Zeilen immer wieder die Graphic Novel: Es heißt „Hör nur, schöne Márcia“ und gab dem Comic seinen Namen. Sie stehen für ihre Sehnsucht nach einem Stückchen Glück mit ihrem Freund Aluísio.
Wobei anfangs unklar ist, was Márcia in ihm sieht – er macht den Eindruck eines lebensuntüchtigen Feiglings. Wie der Comic überhaupt vermittelt, dass Frauen die Gesellschaft zusammenhalten. Trotzdem ist Quintanilhas Frauenbild der Wermutstropfen dieser Graphic Novel: auf der einen Seite Márcia, die nur an andere denkt, auf der anderen ihre Tochter Jaqueline als durchtriebenes Luder. Heilige und Hure – das wirkt heutzutage antiquiert.
Den Lesespaß trübt das nur minimal. Selten ist so viel pralles Leben kombiniert mit einer spannenden Handlung in einem einzigen Comic zu sehen. Und das Beste: nach Gewalt und Korruption gibt es auch ein Happy End.