SWR2 lesenswert Kritik

Lütfiye Güzel – hey anti-roman

Stand
Autor/in
Bodo Bojarzin

Eine Reise vom Ruhrgebiet bis Madrid und Helsinki. Lütfiye Güzels „hey anti-roman“ führt in ihrem formlosen Text durch ihr Leben zwischen Kindheit und Erwachsensein.

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Ihr Weg ist geprägt von Rückschlägen und Frustrationen. Die Neuauflage des 2015 erschienen „Antiroman“ zeichnet sich durch bissigen Humor und Zynismus aus.

Fließbandarbeit. Naziwetter. Grießklöschensuppe. Olé.

So beschreibt die in Duisburg geborene Lütfiye Güzel den tristen Ruhrgebietstrott. Ursprünglich für ihre Lyrik und Kurzgeschichten bekannt, veröffentlichte die mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnete Autorin 2015 den nun in Neuauflage erschienenen „Antiroman“.

Ein Roadtrip nach Duisburg Marxloh, Madrid und Helsinki

Wie der Titel schon ankündigt: ein unkonventionelles Buch. Auf nur 65 Seiten ohne Groß- und Kleinschreibung, ohne Punkt, Komma und Kapitel wird man auf einen Roadtrip mitgenommen. Und zwar nach Duisburg Marxloh, Madrid und Helsinki.

Die Autorin schreibt über ihr Leben zwischen Kindheit und Erwachsenenalter; es ist Coming-of-age Werk, wenn man so will. Hier öffnet die Autorin ihr privates Fotoalbum, in dem einzelne Momentaufnahmen, Gedichte und Gedanken eingeklebt wurden.

Als mittlere Tochter wird sie von ihren Eltern oft übersehen: Die Mutter, eine Analphabetin, schreibt statt Fatma Fanta und sortiert Geldscheine nach Farbe. Der Vater ist Stahlarbeiter. Zwar schreibt Güzel, dass alle Kinderzimmer Baustellen gleichen, die man am besten nie wieder betreten soll, kehrt aber doch dorthin immer wieder zurück.

Feng Shui – ein Fremdwort in Duisburg

Die Wohnung ihrer Nachbarin, einer ausländischen Studentin, macht mächtig Eindruck auf die junge Güzel. Statt die gelben Vorhänge wie alle anderen Mieter hängen zu lassen, wurden diese hier ersetzt. Leute, die das tun, kommentiert sie den ungewöhnlichen Vorgang, die wollen leben. In der Appartement-Oase der Nachbarin scheint die Sonne auf kitschige Weise herein und die Heizungsbotanik und Vokabelzettelwirtschaft sind ein klarer Kontrast zu ihren eigenen kargen Regalen. Feng Shui – ein Fremdwort in Duisburg. Manche Leute leben, andere überleben.

Gemeinsam mit dieser Nachbarin arbeitet sie in einer Fabrik und sortiert Gurken am Fließband. In der Mittagspause schreibt sie auf der Toilette Gedichte, die im Buch auch abgedruckt sind. Hier ist Lyrik im wahrsten Sinne des Wortes Fließbandproduktion.

„ich würde gerne mit jemandem sprechen aber hier sind nur menschen“

In der Bahn tritt ihr ein unbekannter Zeitungsleser feste, wiederholt und grundlos gegen das Schienbein, ohne Sie dabei zu bemerken.

In einer anderen Episode muss Frau Güzel, wegen eines unkonventionellen Wasserskiunfalls – die Skier lösen sich im Hotelzimmer von der Wand und fallen ihr auf den Kopf – ins Krankenhaus. Was ohne Krankenversicherung bürokratische Frustration mit sich zieht.

Und dieses Motiv – der rote Frustrationsfaden – zieht sich weiter: Bei einer ersten Lesung wird sie von den Zuschauern ignoriert und sogar gefragt, ob sie verrückt sei und Selbstgespräche führe. Vielleicht deswegen ergreift Güzel die Flucht nach vorn, fliegt nach Madrid zum Filmregisseur Almodóvar und nach Helsinki zu den Kaurismäki Brüdern. Doch niemand empfängt sie. Wieder bleiben ihr die Türen verschlossen. Nichts ist wie im Film, reflektiert die Autorin, dafür gebe es ja Filme.

Oftmals hatte ich das Gefühl die Autorin schreibe gegen näherkommende Wände an. Gegen ein permanentes gegen-das-Schienbein-getreten-werden und vor-geschlossenen-Türen-stehen. Der das Buch umklammernde Satz lautet: „mein bruder stirbt im märz 1976 / da ist er vierundzwanzig und ich vier.” Diese Sätze sind einfach da und lassen in einen nebulösen Abgrund blicken.

Leider stolpert man doch beim Lesen stellenweise über unverhohlene Kalendersprüche à la:

„bodenständigkeit ist das gegenteil von fliegen“ oder „(…) es scheint als würden sie es mit absicht tun / die da oben meine ich / mit denen da unten.“

Solche Zeilen erscheinen umso entbehrlicher, da Lütfiye Güzel weitgehend mit ihrem bissigen Humor und bitterbösen Zynismus glänzt. Ein Beispiel:

„wir können uns nicht um diese vögel kümmern / entweder wir lassen tiere für uns arbeiten / oder wir essen sie“

„tiere sind auch menschen!“

 Abschließend: Um was handelt es sich hier überhaupt? Einen Essay, einen Gedichtband oder einen Entwicklungsroman? So leicht lässt sich das Ganze nicht beantworten. Es ist ein Anti-Roman!

Ein lesenswerter Anti-Roman!

Und die Frage, ob „hey. anti-roman“ nun lesenswert sei, ja, das ist er definitiv. Mir hat dieses Buch aus der Seele gesprochen und ich musste oftmals laut lachen.  Was kann ich mehr wollen auf knapp 70 Seiten?

Um die Buchkritik aber doch auf einer leichten Note zum Schluss zu bringen: dieses Buch verdient das Prädikat „çok güzel“ – das ist Türkisch und bedeutet auf Deutsch: sehr schön.

Und da Sie sich wahrscheinlich noch nie gefragt haben, wie sich Beatnik Literatur zwischen Ruhr und Emscher anhört, dann ist diese Autorin die Antwort, mit der Sie nicht gerechnet haben.

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Autor/in
Bodo Bojarzin