SWR2 lesenswert Kritik

Lot Vekemans – Der Verschwundene

Stand
Autor/in
Oliver Pfohlmann

Eigentlich wollte Simon seiner niederländischen Familie für immer entkommen. Vor vielen Jahren wanderte er nach Kanada aus. Nun aber soll er sich um seinen pubertierenden Neffen kümmern. Dieser aber verschwindet, zusammen mit einem Unbekannten. Spannungsvoll oszilliert Lot Vekemansʼ Roman zwischen Thriller und Charakterstudie.

Simon, Lot Vekemansʼ Hauptfigur, ist nicht gut zu Fuß. Der Grund dafür ist eine Wunde am Schienbein des Fünfzigjährigen, die einfach nicht heilen will. Freilich ist diese Verletzung in „Der Verschwundene“, dem zweiten Roman der niederländischen Erfolgsdramatikerin Lot Vekemans, nur der allzu offensichtliche Ausdruck für eine andere, nämlich psychische Wunde. Auch dieses Trauma dauert an: Es ist der Lebensgroll des Protagonisten gegen seine egoistischen Eltern und einen dauerfröhlichen Zwillingsbruder, dem das Glück stets nur so zuzufliegen schien.

Der pubertäre Daan kommt in Calgary zu Besuch

Dabei hat Simon alles getan, um seiner Familie für immer den Rücken zu kehren. Vor 25 Jahren ist er ausgewandert, über den großen Teich nach Kanada. Dort, genauer in Calgary, hat sich Vekemansʼ Protagonist eine bescheidene Existenz aufgebaut, mit Fabrikjob, Kellerwohnung und Tiefkühlkost.

Ein tristes Singleleben also, ohne Erwartungen an das Leben, das schon zu Romanbeginn auf eine harte Probe gestellt wird. Denn Simon hat sich von seiner Schwester in Holland überreden lassen, seinen Neffen Daan bei sich aufzunehmen. Der ist 16 und steckt gerade in einer altersbedingt schwierigen Phase. Dummerweise will „der Junge“, wie Simon ihn beharrlich für sich nennt, nach seiner Ankunft vor allem eines: wandern in den nahegelegenen Rocky Mountains. Also genau das, was ihm der genervte Onkel wegen seiner Beinverletzung nicht bieten kann.

Daan verschwindet – lebt er noch?

Wohl aber eine Zufallsbekanntschaft namens Chris. Simon und Daan lernen den alerten Familienvater und seinen verdächtig wortkargen Sohn bei einem Autoausflug in die Berge kennen. Chris scheint Bescheid zu wissen, übers Wandern ebenso wie übers Vatersein; und großzügig schlägt er vor, Simons begeisterten Neffen einfach mitzunehmen auf eine harmlose Anfängertour.

Simon gibt, trotz Bedenken, nach – und bald schon ist sein Neffe ebenso spurlos verschwunden wie Chris, dessen Unbekümmertheit Simon ständig an den verhassten Zwillingsbruder denken lässt. Vielleicht hat er deshalb vergessen, sich rechtzeitig Chrisʼ Handynummer geben zu lassen, ein Versehen, das andernfalls recht unglaubwürdig wirken würde.

Bis zu diesem Wendepunkt wird Lot Vekemansʼ Roman vor allem von einem Gegensatz dominiert: dem zwischen dem mürrischen, schweigsamen Simon, der Daan schon bei seiner Ankunft am liebsten in den nächsten Flieger zurück setzen würde, und einem Pubertierenden mit notorisch überschießenden Erwartungen und niedriger Frustrationstoleranz. So weit, so erwartbar.

Vom Moment von Daans Verschwinden an entfaltet der schmale Roman aber plötzlich veritable Spannungsqualitäten. Spätestens als Simon sich mit seiner verschlossenen Art in den Augen der kanadischen Ermittler selbst verdächtig macht und zu einem Lügendetektortest bestellt wird, lässt sich das schmale Werk kaum noch aus der Hand legen. Ist es in den Bergen womöglich zu einem Unfall gekommen? Lebt Simons Neffe überhaupt noch? Und wer ist Chris, der eigentlich ganz anders heißt, wirklich?

Mehr Thriller als subtile Charakterstudie

Sicher, frei von Schwächen ist „Der Verschwundene“ leider nicht. Da sind zum Beispiel haarsträubende Wendungen wie die Sache mit Chrisʼ Handynummer oder dass sich eine Polizistin auf einen One-Night-Stand mit einem potenziell Verdächtigen einlässt. Vor allem aber vertraut die Dramatikerin ihrer eigenen Geschichte nicht und erklärt dem Leser, der Leserin ein ums andere Mal die Bedeutung einer Äußerung oder Handlung.

Vekemansʼ Stärken zeigen sich dagegen gerade in den erfreulich realistischen Dialogen; „Der Verschwundene“ liest sich über weite Strecken wie eine perfekte Filmvorlage. Allerdings eher für eine subtile Charakterstudie als für einen Thriller: Denn die aus einschlägigen Genrewerken getriggerten Erwartungen lässt die Niederländerin am Ende gekonnt ins Leere laufen.

Stattdessen beschäftigt sich Vekemans in ihrem Roman, ähnlich wie in ihren Stücken, mit zeitlosen Themen wie der Kommunikationsunfähigkeit zwischen den Generationen. Der Schwierigkeit, seiner Herkunft zu entkommen. Oder der Frage, ob sich transgenerationale Familienmuster doch eines Tages überwinden lassen.

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Autor/in
Oliver Pfohlmann