SWR2 lesenswert Kritik

Lisa Weeda – Aleksandra

Stand
Autor/in
Eva Karnofsky

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Die Nazis hatten Aleksandra nach Deutschland deportiert. Das heimische Lugansk sah sie erst Jahrzehnte später wieder. Ihre niederländische Enkelin Lisa Weeda verwebt in ihrem Debütroman "Aleksandra" die Familiengeschichte ihrer Großmutter mit der der Ukraine zu einem großartigen, magisch-realistischen Roman, in dem auch die aktuelle Besatzung des Donbass eine Rolle spielt.

Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann
Kanon Verlag, 288 Seiten, 25 Euro
ISBN 978-3-98568-058-0

Die 1989 geborene Lisa Weeda ist eine niederländische Schriftstellerin mit ukrainischen Wurzeln. Und genau so, wie ihre Biografie durchwebt ist von Familiengeschichte und Weltgeschichte, legt sie auch die Handlung ihres Debütromans an, der in den Niederlanden ein Bestseller ist: "Aleksandra" - Eva Karnofsky.

Der Kolumbianer Gabriel García Márquez erhielt den Literaturnobelpreis nicht zuletzt für seinen Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“. Darin erzählte er hundert Jahre kolumbianische Geschichte in einer Familiensaga und wob obendrein Mythen und Überlieferungen seines Landes ein.

Das Gleiche gelingt jetzt der erst 34-jährigen Lisa Weeda. Und genauso gut. „Aleksandra“ heißt der Erstling der Niederländerin mit ukrainischen Wurzeln. Auch sie versteht es, sprachgewaltig hundert Jahre Familiengeschichte zur Geschichte der Ukraine zu verdichten. Auch sie bedient sich dabei der Stilmittel des magischen Realismus: Ausgehend von der politischen Situation des Jahres 2018, helfen ihr Mythen, Symbole und Träume dabei, ihre große ukrainische Familie auferstehen zu lassen.

Den Hintergrund bilden die politischen Ereignisse in der Ukraine seit der Geburt ihrer Großmutter Aleksandra kurz nach der kommunistischen Revolution 1917. Immer wieder wird Aleksandras Familie durch Entscheidungen im fernen Moskau auseinandergerissen.

Die heutige Wirklichkeit erlebte die Autorin bei eigenen Reisen nach Odessa und in die Ostukraine. Die Krim war da bereits von Russland annektiert und die Region Lugansk völkerrechtswidrig von russlandhörigen Separatisten zur Volksrepublik ausgerufen. Am Beispiel ihres zunächst verschwundenen Großonkels Kolja schildert sie den Zwang, den die Separatisten auf die Bevölkerung ausüben.

Kapitel über diese Volksrepublik wechseln sich ab mit Kapiteln, in denen Weeda aus den Erinnerungen ihrer Großmutter Aleksandra schöpft. Die heute 98-Jährige war als junges Mädchen von den Nazis als Zwangsarbeiterin nach Griesheim bei Darmstadt deportiert worden und ging schließlich der Liebe wegen in die Niederlande.

Aleksandra ist es auch, die ihre Enkelin Lisa zumindest im Buch in die Ukraine schickt: Lisa soll für sie ein rot-schwarz besticktes Leinentuch mit den eingestickten Lebenslinien aller Familienmitglieder zum Grab ihres Neffen Kolja bringen, so wie die Tradition es will.

Unter abenteuerlichen Umständen überquert die Erzählerin Lisa im Jahr 2018 die Grenze von der Ukraine zur Volksrepublik Lugansk. Dort tritt sie dann schnell in die fantastische Welt eines Sowjet-Palastes ein, in dem sie ihren 1953 verstorbenen Urgroßvater Nikolaj trifft. Er nennt den fiktiven Ort den Palast des verlorenen Donkosaken, und so überschreibt die Autorin auch die Kapitel im Buch, die sie in die Vergangenheit ihrer Familie führen.

Für den Urgroßvater, Abkömmling der Donkosaken, ist der Palast, der in der Realität in Moskau steht, ein Symbol für die Ausbeutung durch die kommunistischen Eliten. Die Familienmitglieder, die in den vielen russischen Kriegen starben, leben in Lisa Weedas Fantasie nach ihrem Tod als weiße Hirsche mit einem goldenen Pfeil im Rücken weiter. Sie und der Urgroßvater begleiten Lisa durch das Buch, wie auch in „Hundert Jahre Einsamkeit“ die Toten die Lebenden begleiten.

Der Roman schildert sehr bewegend, wie die Bauern nach der Oktober-Revolution gezwungen werden, sich Kolchosen anzuschließen. Oder wie Stalin der Ukraine die Ernten stiehlt und eine Hungersnot verursacht. Sodass die Menschen zunächst sogar froh sind, als die Nazis das Land okkupieren. Bis Mädchen wie Aleksandra deportiert werden.

Die Ukraine war während des gesamten Jahrhunderts anderen Mächten ausgeliefert – das lehrt das Schicksal von Aleksandras Familie. Der Roman geht besonders nahe, macht er doch sehr kunstvoll und anschaulich klar, weshalb sich die Ukraine so verzweifelt gegen eine neuerliche Okkupation wehrt. Wer mehr darüber und über ukrainische Traditionen wissen möchte, wird Lisa Weedas Roman „Alexandra“ verschlingen. Und wer lebendig erzählte Familiensagas mag, wird das Buch ebenfalls lieben.

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Autor/in
Eva Karnofsky