In der fünften Klasse, kurz vor den Sommerferien, las uns unsere Klassenlehrerin in den verbliebenen Schulstunden ein ganzes Kinderbuch vor – Peter Härtlings „Ben liebt Anna“. Wunderbare Tage, von Deutschstunde zu Deutschstunde freute man sich darauf zu hören, wie es mit dem neunjährigen Erzähler und dem polnischen Aussiedlermädchen weitergehen würde. Seit dieser Zeit war Peter Härtling in meinen noch sehr übersichtlichen literarischen Kosmos aufgenommen. Nur wenig später, vielleicht war es in der achten oder neunten Klasse, kam er an unsere Schule. Es war die erste Lesung, die ich erlebte, und Härtling war der erste Autor, den ich leibhaftig sah. Hinter den Buchstaben also versteckte sich tatsächlich ein leibhaftiger Mensch, der sich das alles ausdachte. Peter Härtling war seitdem ein Begleiter – bis zu seinem letzten Buch „Der Gedankenspieler“, das 2018, ein Jahr nach seinem Tod, erschienen war.
Zu Peter Härtlings 90. Geburtstag: Lesung aus "An den Ufern meiner Stadt. Späte Gedichte"
Unterwegssein als Leitmotiv
Nun bietet sich anlässlich seines 90. Geburtstages am 13. November mit zwei Veröffentlichungen Gelegenheit, Neues von Peter Härtling zu lesen und ihn vielleicht etwas genauer kennenzulernen. Zum einen sind da seine „Späten Gedichte“, die zwischen der Jahrtausendwende und seinem Todesjahr 2017 erschienen sind. Zum anderen eine Biografie, die sein ehemaliger Lektor Klaus Siblewski unter dem Titel „Unterwegs sind wir alle“ vorlegt: Das Unterwegssein ist in der Tat eines der Leitmotive im Werk Peter Härtlings. Von Hartmannsdorf bei Chemnitz ging es während des Kriegs nach Olmütz in Nordmähren, wo der Vater als Rechtsanwalt arbeitete; dann kam die Zeit der Flucht, zunächst nach Zwettl in Niederösterreich, dann nach Wien, bis der 12-Jährige schließlich nach einer Odyssee mit der Mutter in Nürtingen strandete. Der Vater starb in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, die Mutter nahm sich 1946 das Leben. Peter Härtling wuchs bei seinen Tanten auf, brach die Schule ab, rettete sich in die Literatur, fand in dem Maler Fritz Ruoff einen älteren Freund und Mentor, arbeitete als Journalist unter anderem in Stuttgart, Köln und Berlin, als Lektor und als Verlagsleiter bei S. Fischer, um schließlich in einem Vorort Frankfurts sesshaft zu werden und als freier Schriftsteller ein schier unübersichtliches Werk zu schaffen: Gedichte, Prosa, Kinderbücher, Roman-Biografien, Essays, Artikel, autofiktionale Texte. Er war fürs Radio tätig, Mitglied diverser Akademien, und er unternahm trotz zunehmender gesundheitlicher Probleme endlose Lesereisen.
Urvertrauen in die Literatur
In all den Büchern, die er über die Jahre geschrieben hat, ob über Hölderlin oder Schubert, über seinen Vater oder Kriegs- und Fluchterfahrungen, suchte er das Rätsel seiner eigenen Existenz zu ergründen. Es lag darin etwas Ruheloses, und zugleich war da ein Urvertrauen ins Gelingen, in die Literatur – die ihm mehr oder minder die Stabilität bereitstellte, die er in der Familie nach all den traumatisierenden Erlebnissen nicht kannte.
Klaus Siblewski hat keine Biografie im klassischen Sinne geschrieben: Lebensstationen und -konstellationen werden größtenteils mit Bezug auf Härtlings Arbeit in den Blick genommen, selten detailliert ausgeführt. Wir bekommen keine ausführlichen Informationen über die Eltern; Härtlings eigene Familie, Frau und Kinder, bleiben blass; eine Affäre, die ihn sehr beschäftigte, wird nur dezent erwähnt. Siblewski, dessen Werkkenntnis als Härtlings Lektor immens ist, versucht anhand der Bücher die Lebensthemen herauszuarbeiten. Die Prämisse und Grundthese dieser Biographie: Nach dem Krieg habe Härtling sich mit elementaren Fragen des Überlebens beschäftigen müssen, seinem materiellen und emotionalen Überleben. Und – Zitat – „er fand für sich einen Weg: durch das Schreiben, und indem er sein Leben in allen seinen Belangen den Erfordernissen des Schreibens unterordnete.“
Motive der Fremdheit und Verlorenheit
So folgt Siblewskis Ansatz zwar chronologisch dem Werk, aber nicht unbedingt dem Leben: Immer wieder rekurriert er an entsprechender Stelle auf biographische Umstände, etwa wenn Härtling sich in der „Nachgetragenen Liebe“ aus dem Jahr 1980 mit seinem Verhältnis zum Vater beschäftigt. Immer wieder kommt das Motiv der Fremdheit und Verlorenheit in den Blick. Tatsächlich scheint es nicht so einfach, Leben und Werk bei Härtling auseinander zu dividieren: Was ihn beschäftigte, wurde bei ihm in Literatur verwandelt. Und die Spuren zur realen Biographie werden so nach und nach verwischt. Von daher ist Klaus Siblewskis „Unterwegs sind wir alle“ vor allem jenen zu empfehlen, die noch einmal genauer in die literarischen Welten Härtlings eintauchen und die ästhetischen Bewegungen in diesem Werk nachvollziehen wollen – um dort einem Schriftsteller zu begegnen, der in den Büchern seine wahre Heimat und seinen Ruhepol gefunden hat.