Buchkritik

Katharina Hacker – Die Gäste

Stand
Autor/in
Ina Beyer

Mitten in der Pandemie erbt eine Sprachwissenschaftlerin ein Café in Berlin: Das ist bevölkert mit allerlei seltsamen Typen und mit schauspielerisch talentierten Ratten. Ein Berlin-Roman der anderen Art: magisch, poetisch, schräg.

An ihrem 50. Geburtstag erbt die Protagonistin ein Café

Es ist der längste Tag des Jahres und es ist Friederikes 50. Geburtstag. Ein Bote klingelt und bringt einen Brief von Rechtsanwalt Kowalk. Er bittet im Namen der Großmutter in seine Kanzlei. Umgehend.

"Es war ein warmer Junitag, mittags würde es wohl heiß werden. Der längste Tag des Jahres ist immer festlich, zu Herrn Kowalk war es ein Katzensprung, und ich war neugierig, was mir meine Großmutter, die vor siebzehn Jahren gestorben war, wohl ausrichten wollte."
Aus: "Die Gäste" von Katharina Hacker

Die Überraschung ist nicht gering für die Wissenschaftlerin, die seit dreißig Jahren am Institut für schwindende Idiome arbeitet.

"Ihre Großmutter vererbt Ihnen zu Ihrem fünfzigsten Geburtstag ein Ladenlokal. Einen Laden?, fragte ich erschrocken. Jetzt? Ein Café, um genau zu sein [...] Aber was soll ich mit einem Café!, rief ich aus. Ist es nicht längst pleite gegangen? Ja, rief er laut zurück, das weiß kein Mensch, was Sie mit einem Café sollen, in diesen Zeiten!"
Aus: "Die Gäste" von Katharina Hacker

Der Schauplatz ist ein düsteres, dystopisches Berlin

Plötzlich ist Friederike Wirtin - in diesen Zeiten, die unsere sind, pandemische. Aber nicht nur ein Virus bedroht die Menschen. Auf den Dächern hocken Heckenschützen. Schwarzer Regen fällt. Stürme toben. Strom fällt aus. Düster und dystopisch ist das Szenario, das Katharina Hacker zeichnet. Allerdings tupft sie, nicht nur was die Katastrophenmeldungen betrifft, immer nur vage poetische Skizzen auf die Seiten.

Ein paar andeutende Formulierungen und weiter geht es. Eine bedrohliche Atmosphäre entsteht so immer nur für einen Absatz. Das ist oft augenblickhaft reizvoll, hinterlässt aber häufig auch den schalen Nachgeschmack von Effekthascherei. Weil unter der Oberfläche kaum mehr als die Behauptung lauert. Es sein denn, es handelt sich um Ratten. Auch die wohnen im Untergrund. Und dahin schauen Autorin und Protagonistin mit geradezu sezierendem Blick.

Graue Ratten, größer als alle, die ich auf der Straße gesehen hatte

"Da standen sie schon, den Blick nach oben, auf mich gerichtet, dicht an dicht, als hätten sie nur darauf gewartet, dass ich käme. [...] Graue Ratten, größer als alle, die ich auf der Straße gesehen hatte, und eine noch einmal größer, fast dreißig Zentimeter hoch, mit einem schwarzen Umhang und einem Stock in der Pfote. Sie gingen aufrecht, einige barfuß, andere hatten halbhohe Stiefel an. Der Anführer schaute zu mir und lüpfte, mit blödem Lächeln, seinen Hut."
Aus: "Die Gäste" von Katharina Hacker

Die Ratten inszenieren, musizieren und demonstrieren, und sie versorgen aufopferungsvoll ihre Kranken. Sie sortieren allerdings auch schonungslos aus, wenn es not tut. Per Kopfkissen ersticken sie überflüssige röchelnde Patienten. Unter den Dielen grausames Geschehen, oben aber herrscht weitgehend Idylle.

Die Gäste des Cafés sind skurrile aber harmlose Gestalten

Die titelgebenden Gäste, die das Café bevölkern, sind zumeist skurrile aber harmlose Gestalten. Herr Lehmann vom Späti mit seinem Dackel Frau Merkel kommt vorbei, der spindeldürre Herr Palun, der seinen dicken Vater pflegt. Zwielichtig hingegen erscheint von Anfang an Benedikt, der junge Mädchen Verträge unterschreiben lässt. Lange denkt man, es sind Prostituierte aus der nahen Kurfürstenstraße. Bis sich herausstellt, dass er mit den Organen der Frauen handelt.

Aber auch hier: eine kurze Erwähnung und schon ist der Spuk vorbei. Und vergessen. Denn es geht immer weiter. Mit Kasia und Stislav aus Polen. Sie putzen und reparieren und fahren ab und zu über die Grenze, wo Kasisas Bruder immer wieder aus dem Fenster springen will. Oder Robert taucht auf, der viel reisende Geliebte der Wirtin. Ihr Mann ist verschwunden, ebenso der Adoptivsohn, dem sie seine wahre Herkunft verschwiegen hat.

Um die Protagonistin tummeln sich Hase, Fuchs und ein sprechender Hund

All diese Figuren irrlichtern durch Gedanken und Café der verträumten Friederike, die dort in einem Sessel zusammengerollt die Nächte verbringt. Wenn sie nicht Gäste bedient oder den Ratten Gesellschaft leistet, schleicht sie zur verwahrlosten Remise im Hof. Dort tummeln sich Hase, Fuchs, Rabe oder Wildschwein, Katze und Igel. Aufmerksam beobachtet von Pollux, dem sprechenden Hund.

"Pollux stand am Fenster, als wäre es nun Zeit, die tiefsten Dinge und die leichtesten zu verstehen. Du bist ein Hund, wollte ich sagen, und musst dir keine Gedanken machen, denn er seufzte schwer. Und weil er hörte, was ich nicht aussprach, sagte er zu mir: Du schläfst, aber die Ratten kommen nachts zurück. Alle?, fragte ich erschrocken. Nein, immer nur eine, antwortete er abweisend. [...] Sie traut euch nicht."
Aus: "Die Gäste" von Katharina Hacker

Die Autorin Katharina Hacker am 19. November 2010 in der Universität Bielefeld
Autorin Katharina Hacker (2010)

Die Figuren sind wirklichkeitsferne Wunschgestalten in einer poetischen Welt

Ein ewiger Reigen spaziert so vor dem Auge des Lesers vorüber - von Menschen, Tieren, Ereignissen. Ein erkennbares Woher oder Wohin gibt es nicht. Ausgewachsene Charaktere ebenso wenig. Die poetische heile Welt, die Katharina Hacker entwirft - jenseits der angedeuteten Bedrohungen - wird bevölkert von charmanten Gästen, die aber allesamt zu wenig Profil entwickeln, als dass sie länger in Erinnerung bleiben.

All die romantisch verklärten Cafébesucher haben mit der Berliner Gegenwart und dem rauhen Kiez rund um die Potsdamer und Kurfürstenstraße, wo die Geschichten angesiedelt sind, wenig zu tun. Die Buchfiguren sind wirklichkeitsferne Wunschgestalten.

Der Roman ist eine kleine Episodensammlung

Katharina Hackers Roman mit seinen 267 Kurzkapiteln auf 255 Seiten ist eine kleine feine Episodensammlung. In Zeiten wie diesen, in denen jeder Besuch in einem Café wohl überlegt sein will, entführt dieses Buch den Leser in seinen Gedanken an einen Tisch am Fenster. Von dort aus kann er in aller Ruhe das ungefährliche Treiben rund um den Tresen, zwischen den Zeilen, unter den Dielen und auf den Hausdächern ringsum beobachten.

Stand
Autor/in
Ina Beyer