Buchkritik

Judith Kohlenberger – Gegen die neue Härte

Stand
Autor/in
Günter Kaindlstorfer

Die Wiener Migrationsforscherin Judith Kohlenberger fordert EU-Grenzen, die beides zugleich sind: stabil und durchlässig. Von der „neuen Härte“ gegen geflüchtete Menschen hält sie nichts. Ein beeindruckendes Plädoyer für Mitgefühl und Empathie.

Judith Kohlenbergers Domäne ist die Migrationsforschung. Die „neue Härte“, die sie konstatiert, manifestiert sich in ihren Augen vor allem im Umgang mit geflüchteten Menschen: 

An den EU-Außengrenzen herrscht mittlerweile eine quasi rechtsfreie Zone. Durch Bürgermilizen, (vermummte) Grenzpolizei und die europäische Grenzschutzagentur Frontex, die allesamt in Verdacht stehen, Treibjagden mit Hunden auf Geflüchtete zu veranstalten konnte sich entlang Europas Peripherie ein ,Gürtel der Gewalt‘ etablieren, der alles fernhalten soll, wovon die kontinentale Gesellschaft nicht berührt werden will.

Abschottung funktioniert nicht 

Diese Brutalität, mit der sich das saturierte Europa das Elend der Welt vom Leib zu halten versucht, bringt gravierende Probleme mit sich, stellt Judith Kohlenberger fest. Zum einen funktioniert die Abschottung nicht – die Ankunftszahlen gehen nicht zurück – zum anderen verändert der offensive Mut zur Gefühllosigkeit auch die europäischen Gesellschaften selbst, so Kohlenberger, und zwar zu deren Nachteil: 

Was hat denn diese anhaltende, zunehmende Grenzgewalt vor allem der letzten zehn Jahre mit der Gesellschaft im Inneren gemacht? In der Art und Weise, wie wir unser Zusammenleben gestalten, nehme ich eine immer stärkere Verhärtung, einen stärkeren Rückzug ins Eigene bei gleichzeitiger Abwendung vom Anderen wahr. Und diese Abwendung vom Anderen, diese Abschottung und Härte gegenüber dem Anderen, die wurde an den Grenzen erprobt, eingeübt, kann man sagen – aber die hat sich fortgesetzt in andere Dimensionen unserer Gesellschaft.

Absolute Grenzenlosigkeit ist keine gute Idee 

Judith Kohlenbergers Buch ist ein Plädoyer für menschliche Zugewandtheit, in allen gesellschaftlichen Bereichen. Neoliberalen Egozentrismus lehnt sie ebenso ab wie den neurechten Trend zur allumfassenden Fortifikation. Aber: Weichheit und grenzenlose Durchlässigkeit allein seien auch keine tauglichen Alternativen, betont die Kulturwissenschafterin:  

Dieses Buch ist weder ein Plädoyer für endlose Weichheit noch für grenzenlose Offenheit. Grenzenlosigkeit ist im Persönlichen wie im Politischen selten eine gute und nie eine gefahrlose Idee. Statt grenzenloser Offenheit braucht es ein realistischeres Konzept, um der neuen Härte zu begegnen. Die Eigenschaft, zugänglich zu sein, aber ohne dabei das Eigene über das andere oder das andere über das Eigene zu stellen. Offen und durchdringbar zu sein.

Judith Kohlenberger formuliert in ihrem Buch ein demokratisches Grenz-Konzept. Statt Europa zur „Festung“ auszubauen, mehr noch als bisher, sollten die EU-Außengrenzen zum einen stabil sein, zum anderen aber Austausch und Fluktuation ermöglichen, etwa durch die Schaffung legaler Flucht- und Migrationsrouten: 

Ich sage immer, es braucht Durchlässigkeit an den Grenzen nach klaren Kriterien, wer kommen darf, wer bleiben darf – Kriterien, die gemeinsam erschlossen werden müssen, die gemeinsam auch aufrechterhalten werden müssen. Und wo klar nachvollziehbar ist für beide Seiten, wie denn Einreise und Ausreise gestaltet sind. 

Weder starr noch nachgiebig 

Judith Kohlenberger ist überzeugt davon, dass sich Flucht und Migration deutlich besser managen lassen, als es die EU derzeit tut. Voraussetzung dafür sei allerdings eine „universalistische Empathie“. Von Abschottung und der aggressiven Abwehr von äußeren Einflüssen, wie es die Rechten und Rechtsradikalen fordern, hält Kohlenberger nichts.

Übrigens auch auf individueller Ebene nicht. Leben heißt durchlässig sein. Weder starr noch grenzenlos nachgiebig, sondern beides gleichermaßen: hart und weich zugleich. 

Stand
Autor/in
Günter Kaindlstorfer