Schuld ist das Dopamin. Dieser Botenstoff leitet Signale zwischen den Nervenzellen weiter und steuert Emotionen und Reaktionen. Gelegentlich wird es auch „Botenstoff des Glücks“ genannt. Es wird ausgeschüttet, wenn wir im Netz eine hippe Jeans kaufen, beim Online-Game eine Runde weiterkommen oder einen heißen Porno anklicken. Schon die Vorfreude sorgt dafür, dass wir einen Glückskick erleben. Das Schlimme dabei: Wir gewöhnen uns an den Kick – und brauchen dann immer öfter und immer mehr von dem, was ihn auslöst. Und zack – stecken wir in einer Falle und sind süchtig nach diesem Kick.
Süchtig nach dem Dopamin-Kick
Weil uns das Internet sieben Tage die Woche 24 Stunden lang den Zugang ermöglicht, gönnen wir uns immer mehr Klamotten, immer mehr und immer härtere Pornos oder immer längere Game-Sessions am Bildschirm.
Die Neurologin und ärztliche Psychiaterin Heike Melzer behandelt Menschen, die sich ursprünglich nur mit ein bisschen Online-Shopping, einem Porno oder einem Online-Spiel nach einem schweren Tag belohnen wollten, und dann immer tiefer in die Abhängigkeit gerieten. In ihrem Buch „Versteckte Köder“ stellt sie über weite Strecken sehr gut verständlich und mit etlichen Beispielen dar, wie Patientinnen und Patienten in die Sucht rutschten. Einige kurze Passagen kommen allerdings mit vielen medizinischen Fachtermini daher, aber man versteht das Buch auch bestens, wenn man die nur überfliegt.
Dass das Internet zur Sucht werden kann, ist inzwischen bekannt. Die Stärke von Melzers Buch ist es, dass sie auch erklärt, was physisch in einem Menschen abläuft, der in die Abhängigkeit gerät. Im Gehirn trainieren wir uns „Seilschaften“ an, schreibt sie und meint damit, dass ein physischer Prozess einsetzt, der bewusstes Entscheiden allmählich in unbewusstes Verlangen überführt. Wenn wir diese antrainierten schlechten Gewohnheiten wieder ändern wollen, müssen wir gegen diese neuen physischen Gegebenheiten in unserem Hirn anarbeiten. Und das ist gar nicht so leicht. Wer sich das Rauchen abgewöhnt hat, kennt das aus eigener Erfahrung: Der Griff zur Zigarettenschachtel stellt sich in bestimmten Situationen wie automatisch ein.
Apps und Websites setzen gezielt Trigger ein
Uns passiert das nicht, dieses unmerkliche Abdriften in die Sucht, mögen wir denken. Doch wir haben die Rechnung ohne die Trigger gemacht, die Werbefachleute gezielt in die Apps und Websites eingebaut haben. Heike Melzer spricht von manipulativem Marketing. „Nur noch wenige Exemplare auf Lager“ ist so ein Trigger, der zum schnellen Kauf ohne größeres Nachdenken einladen soll. Das Buch nennt viele solcher Trigger und man stellt fest, dass man ihnen auch schon aufgesessen ist.
Melzer schildert an vielen Beispielen aus ihrer Praxis, welche verheerenden Folgen diese Abhängigkeiten haben können: Zugespitzt formuliert, macht unkontrolliertes Online-Shopping arm, ausufernder Pornographie-Genuss zerstört Beziehungen, und wer in eine Game-Welt abtaucht, verliert allmählich das wirkliche Leben. Melzer berichtet von Menschen, die sich irgendwann nicht einmal mehr duschten, weil sie fürchteten, etwas am Monitor zu verpassen. Allein das Wissen, welche Trigger die Marketing-Spezialisten sich für uns ausgedacht haben und was da unbewusst im eigenen Kopf vor sich geht, lohnt die Lektüre.
Mehr Glück verspricht das analoge Leben jenseits des Internets
Und noch etwas spricht für das Buch: Es hilft zu erkennen, dass der Spaß im Internet meist nur scheinbar für die Mühen des Alltags entschädigt. Es lohnt sich, die eigenen Verhaltensweisen immer wieder zu überprüfen. Wer bereits tief in der Sucht steckt, benötige meist professionelle Hilfe, schreibt Melzer, doch sie gibt auch Tipps, wie man den Präfrontalen Kortex stärkt: die Zone im Gehirn, die dafür sorgt, dass man nachdenkt, bevor man konsumiert. Ein Anti-Autopilot-Tagebuch könne da beispielsweise nützlich sein, also aufzuschreiben, wann wir was im Internet treiben. Heike Melzer plädiert in ihrem Buch „Versteckte Köder“ aber vor allem dafür, in ein analoges Leben jenseits des Internets zu investieren, damit der Glück verheißende Klick nicht mehr nötig ist.