SWR2 lesenswert Kritik

Hanno Sauer – Moral. Die Erfindung von Gut und Böse

Stand
Autor/in
Andreas Puff-Trojan

Der Philosoph Hanno Sauer liefert in seinem Buch eine Evolutionslehre unserer Moral. Ohne Moral gäbe es keine Entwicklung der Menschheit hin zu sozialen, kooperativen Wesen – und ohne Moral gäbe es auch keine Kultur. Trotz aller moralischen Fehlschläge in der Geschichte der Menschen bleibt der Autor Optimist: Wir sind auf einem zwar langen, aber richtigen Weg zu einer moralisch hochstehenden Spezies.

Hanno Sauer, Jahrgang 1983, lehrt an der Universität Utrecht Philosophie, speziell Ethik. Sein erstes umfangreiches Buch auf Deutsch trägt allerdings den Titel: „Moral. Die Erfindung von Gut und Böse“. Der Begriff „Moral“ kommt von lateinisch „mores“ und französisch „moeurs“, meint also die Sitten und Gebräuche, die für eine bestimmte Gemeinschaft gelten. Ethik – etwas salopp gesprochen – wäre dann der ‚Überbau‘, Ethik als „Moralphilosophie“.

Am Anfang seines Buchs stellt der Autor klar: „Eine Geschichte der Moral ist keine Geschichte der Moralphilosophie. Die Bergpredigt, Kants Kategorischer Imperativ spielen in meiner Geschichte eine Rolle, aber sie ist vergleichsweise gering.“

Es geht also um die „mores“, um Moral. Das Problem dabei: Die Bergpredigt Jesu ist sicherlich eine moralische Rede – und keine abstrahierende Ethik. Auch Immanuel Kants Ausformulierungen des Kategorischen Imperativs zielen auf ein konkret moralisches Verhalten. Worum es Hanno Sauer geht, ist – wie er es nennt – eine „Evolution unserer Moral“. Und daher spielt in seiner Geschichte der Moral die Evolutionsbiologie keine geringe Rolle.

Sein Unterfangen ist enorm: Er beginnt seine Erzählung der Moral vor fünf Millionen Jahren. Das ist sozusagen der ‚Startschuss‘ zur Menschwerdung. Der nächste Eckpunkt ist bei 500 000 Jahren festgemacht: Unsere Vorfahren sollen sich damals schon sprachlich verständigt haben. Für Sauer ist damit die Erfindung von „sozialen Sanktionen“ verbunden. Die Geburtsstunde der Moral. Vor 50 000 Jahren betritt dann der Mensch die Bühne, so wie wir ihn uns heute vorstellen. Nein, nicht seine Vernunft oder seine Sprachfähigkeit ist für Sauer das primäre Merkmal, sondern seine „flexiblen Kooperationsstrukturen“. Soll heißen: Moral macht menschlich. Und nicht nur das: Die ersten Hochkulturen vor rund 5000 Jahren verdanken sich der moralischen Fähigkeiten unserer Vorfahren.

In Fünferschritten geht es bei den Kapiteln weiter: 500 und 50 Jahre, dann folgen die letzten 5 Jahre bis zur Gegenwart. Eines ist dabei ersichtlich: Wer Moral als Sitten und Gebräuche einer ihr übergeordneten Ethik ansieht – sei diese religiös oder philosophisch ausgerichtet –, der wird mit Hanno Sauers Darstellung keine Freude haben. Moral ist für ihn ein Normsystem, das sich in menschlichen Gesellschaften ausbildet. Und noch mehr gilt: Moral ist die Revolution in der Evolution des Menschen. Ohne evolutionsbedingte Moral gäbe es keine geselligen Menschen, sondern nur gewalttätige Egomanen. Hanno Sauer beruft sich auch auf Hannah Arendts Postulat von der „Banalität des Bösen“. Doch die Philosophin meinte mit der „Banalität des Bösen“ nicht, dass das Böse banal sei, sondern dass das Banale, also die Norm böse sein kann. Und das ist tatsächlich besorgniserregend.

Gegen Schluss des Buchs ist zu lesen: „Im Krieg heißt es, ist das erste Opfer die Wahrheit. Zwar sind wir nicht im Krieg: Aber die verhärteten Fronten im moralischen Diskurs der Moderne erinnern an die Unversöhnlichkeit aufrüstender Nationen.“ Seltsam. Wladimir Putin behauptet, er befinde sich im Krieg mit dem Westen. Und der Westen – die NATO – rüstet massiv auf. In der Ukraine ist der Krieg grausame Realität geworden. Was ist also los mit uns moralischen Wesen – in der Ukraine, in Syrien oder sonst wo? Hanno Sauer spart in seinem Buch nicht an Schilderungen von historischen Schreckensszenarien. Doch sie sind für ihn eher ein fatales Missgeschick auf dem langen Weg des Menschen zu einer moralisch hochstehenden Spezies. Der Evolution sei Dank! Hanno Sauer ist zweifellos Optimist. Und vielleicht brauchen wir ja Optimisten, zumal europäische Intellektuelle oft zum Pessimismus neigen – wie auch der Autor anführt. Ob man den Weg einer „Evolution unserer Moral“ mit Hanno Sauer gemeinsam hoffnungsfroh gehen will, hängt daher von der moralischen Gestimmtheit einer jeden Leserin, eines jeden Lesers ab.

Piper Verlag, 392 Seiten, 26 Euro
ISBN 978-3-492-07140-6

Stand
Autor/in
Andreas Puff-Trojan