Gespräch und Lesung

Gespräch mit Poeta Laureatus Michael Krüger zum neunten Gedicht

Stand
Moderator/in
Alexander Wasner
Alexander Wasner, Autor und Moderator bei SWR Kultur
Autor/in
Michael Krüger

Natürlich hat der Krieg in Israel auch ihn bewegt. Und doch hat Michael Krüger als Poeta Laureatus des Literaricums in Lech ein anderes Thema in den Mittelpunkt des neunten Gedichts gestellt: Die jüngste Überschwemmung im libyschen Darna im wärmsten Jahr aller Zeiten. Michael Krüger beschwört die Literaturgeschichte, um die große Flut poetisch zu fassen - Nietzsche, Walt Whitman, die Bibel: „Über dem See sammeln sich in schwarzen Schleiern die Vögel, bald werden sie das Land verlassen und uns.“

Das neunte Gedicht

Der Tag war noch nicht angebrochen, da hatte Atlas seine Last schon
abgeworfen, dass die Welt zersprang und die Menschen, eingehüllt
in Umhänge aus Staub, unter den Trümmern ihrer Häuser erstickten.
Es war das letzte Kapitel einer Mythologie vom aufrechten Menschen,
die bis heute in dieser Gegend erzählt wird, Leben erzeugt Tod.
Danach eine verheerende Sintflut in Darna, und kein Gott, der Noah
einen Hinweis gab, die rettende Arche zu bauen aus gutem Holz.
Die Dämme brachen und liessen dem gestauten Wasser
freien Lauf, sich mit dem salzigen Wasser der Großen Syrte
zu paaren. Eine vieltausend Jahre alte Erzählung, von Herodot
und Flavius Josephus begründet, zuerst mit Blut und dann mit Tinte
geschrieben, gefärbtem Wasser, schwamm den zwei Regierungen
des gebeutelten Landes davon, und mit ihnen die Datteln, das Öl
und der Safran und die Erinnerung an Alexander den Großen.
Weiter südlich stehen Soldaten in frisch gebügelten Uniformen
vor einem Mikrofon und verkünden, die seltenen Erden in Zukunft
ohne fremde Hilfe zu schürfen. Wer es nicht glaubt,
muss lebenslänglich Sand zählen oder wird nebenbei erschossen.
Erschossen wird auch, weiter östlich auf der immer noch runden Erde,
wer den Schleier wegziehen will vor dem Jammer der Welt.
Vom Mond aus ist Darna nicht mehr zu erkennen, doch die wabernde Brühe
vor der Küste bildet mit seinen verlaufenden Farben ein Aquarell,
das sich gut sehen lassen kann: die Grenze zwischen den göttlichen
und den menschlichen Plagen verschwimmt zu einer schönen Einheit.
Nichts bleibt den grossen Augen verborgen, welche die Erde umkreisen,
auch Europa nicht, wo die Räume schrumpfen und winzige Mauern
gebaut werden am Morgen, die am Abend schon geschleift sind.
Leviathan läuft lachend über die rauchenden Trümmer hinweg.
Doch die Himbeeren waren so herrlich süß wie im vergangenen Jahr,
nur die Brombeeren liessen zu wünschen übrig, gar nicht zu reden
von den Pilzen, die ohne jede Abstandswahrung ihr Gift versprühten.
„Ihr müsst verstehen, dass wir euch lieben“, hatte ein russischer Soldat
zu Milan Kundera gesagt, damals, als die Welt schon einmal geteilt war,
„wie schade, dass wir gezwungen sind, euch mit Panzern beizubringen,
was es heisst: zu lieben.“ Noch halten die Blätter am Ahorn,
und ein paar Bienen tun so, als hätte Gott den Leviathan schon erwürgt.
Über dem See sammeln sich in schwarzen Schleiern die Vögel,
bald werden sie das Land verlassen und uns.