Der Poeta Laureatus Michael Krüger zum Herbstbeginn über seine Pilzleidenschaft und die assoziationsfreundliche, lyrische Kraft der Pilzbenennungen: Schleierling, Raukopf, Steinpilze und Pfifferlinge – warum findet man ausgerechnet zu Beginn des zweiten Kriegsjahres so wenige Pilze und wenn dann ungenießbare oder solche mit gefährlichen Namen? Und wo ist die Aufbruchstimmung der Jugend hin, die Zeit der Rebellion, als man glaubte, „nicht Gott, sondern der Teufel sei tot“?
Das achte Gedicht
Kaum Pilze im zweiten Jahr des Krieges,
der Boden zu trocken oder,nach dem großen Gewitter,
zu nass für das Judasohr und den Steinpilz,
der nicht flüchten kann über den immerdurstigen Sand.
Manchmal sieht man eine verlorene Gruppe
Faltentintlinge mit ihren grauen,durchlöcherten Helmen,
oder eine Ziegenlippe,die sich trotz ihrer faltigen Huthaut
den Schnecken anbietet.In den sauren Laubwäldern
jenseits der Autobahn stehen der gutgekleidete Raukopf
und der violette Schleierling auf seinem schleimigen Fuss.
Ihr Gift wirkt oft erst nach Wochen,wenn wir schon nicht mehr
an eine Epochenwende geglaubt haben.
Aber auch ohne essbare Pilze ist es immer noch befreiend,
im Sommer durch den Wald zu laufen,ohne Gedächtnis,
ohne Zeit und ohne die Ahnung,dass in diesem Moment
die Geschichte der Vergangenheit umgeschrieben wird,
um sie der Zukunft anzupassen.Die alten Bäume
bereiten sich auf das Sterben vor und ziehen die Hornissen an,
die lange auf der roten Liste standen.In ihrer Monarchie,
mit einer stolzen Königin an der Spitze,überwintern nur
die Arbeiterinnen,die Drohnen erleiden einen frühen Tod.
Als ich jung war,hatten wir Angst vor den Drohnen,
vor ihrem tödlichen Fleiss.Damals hätte nicht viel gefehlt
und wir wären vernünftige Menschen geworden,
weil alles vernünftig klang,besonders der kühne Entwurf
unserer Zukunft.Wir mussten viele Sprachen lernen,
um uns halbwegs zu verstehen.Wir glaubten,wenn wir glaubten,
nicht Gott,sondern der Teufel sei tot.Im Hinterzimmer
durften wir,auf eigene Faust,Pascal lesen,bis wir selbst
nicht mehr wussten,wer wir waren.Es gab viel Hilfe,
aber keinen Trost.Jetzt also beginnt die Epochenwende,
die Gebrauchsanwesung steht als Fortsetzungsroman
in allen Zeitungen.Am Ende meines Weges durch den Wald
fand ich dann doch noch ein paar Maronen,die Hochstapler
unter den Schwammerln,die wie Steinpilze aussehen wollen.
Lyrik | Preis „Die Welt schmeckt jetzt anders“ – Michael Krüger als Poeta Laureatus
Der Krieg und die Dichter, das war immer ein Thema, seit Homer Troja besungen hat und Gryphius die Toten des 30jährigen Kriegs beklagten. Michael Krüger macht als Poeta Laureatus des literaricums im österreichischen Lech keine Ausnahme. Jeden Monat findet er Worte für das, was ihn beschäftigt: Amseln und Drohnen, das Alter und die Frage, was man mit Apfelbäumen aus dem Kaukasus machen sollte. Bei SWR 2 lesenswert und auf SWRKultur.de veröffentlichen wir die Gedichte und dazu Gespräche, die Michael Krüger und SWR2-Literaturredakteur Alexander Wasner monatlich führen.