Euripides „Medea“ ist eine der gewaltigsten und gewalttätigsten Tragödien der griechischen Antike, ein Monsterdrama. Nun liegt der Text in einer fulminanten Neu-Übersetzung vor, die zeigt: Medea, die männer- und kindermordende Frau, bleibt ein großes Rätsel und ist immer noch aktuell.
Euripides, Medea, ein Monsterdrama: Jetzt ist im Manesse Verlag eine neue Übertragung erschienen von keinem geringeren als vom renommierten Schweizer Übersetzer Kurt Steinmann, der neben vielen, vielen antiken Dramen auch Homers Großepen „Ilias“ und „Odyssee“ ins Deutsch gebracht hat. Abgerundet wird die schöne Ausgabe von einem klugen Nachwort der Schriftstellerin und Philosophin Thea Dorn.
Worum geht`s im Medea-Mythos? Zu Beginn ist Medea eher die „Frau von“, nämlich von Jason, der von seinem Onkel um sein Erbe gebracht werden soll. Und wie wir das von vielen Märchen- und Sagenstoffen her kennen, wird er auf eine gefährliche Reise geschickt, die er, wäre er kein Held, nicht überleben könnte. Sie führt quer übers Schwarze Meer nach Kolchis ins Barbarenland, um eine besondere Trophäe zu erbeuten, das goldene Vlies, eine Art heiliges Widderfell. Jason gelingt das Unmögliche dank der ortsansässigen Königstochter Medea, die sich in den schönen Dieb verliebt und zu allem Glück auch noch Zauberkräfte besitzt, weil sie göttlicher Abstammung ist. Man verspricht sich ewige Liebe und Treue, flieht gemeinsam, landet in der Nähe des heutigen Volos, sorgt dafür, dass der hinterlistige Onkel auf grausame und perfide Art zu Tode kommt, flieht weiter nach Korinth: ein Pärchen auf der Flucht und - wie man das aus vielen Bonnie & Clyde-Varianten kennt – mit erheblichem Gewaltpotential und der Vorliebe für besonders brutale Tötungsarten. Medea lässt nicht nur den eigenen Bruder zerstückeln, um ihre Verfolger abzuhängen, zerstückelt wird auch Jasons Onkel. Leichen pflastern ihren Weg. Aber in Korinth scheinen sie nun angekommen – bis der Exilant Jason die Königstochter Medea wieder mit einer Königstochter betrügt, ob aus sexuellen oder Karrieregründen wird nicht ganz klar.
Und hier setzt das Drama von Euripides ein. Medea betritt nach einem Vorspiel die Bühne, um sie bis zum Ende nicht mehr zu verlassen. Das ganze Stück besteht letztlich nur aus der Genese eines Racheplans, der auf nichts anderes zielt als auf die Zerstörung der Existenz Jasons. Aber eben nicht, wie man neuzeitlich denken könnte, in dem man bzw. frau ihn tötet, sondern gerade alle anderen, die künftige Braut, ihren Vater, den König, ja auch die eigenen Kinder, um Jason alles zu nehmen, was irgendwie an ein neues Zuhause erinnern könnte. Es ist Euripides, der dritte und jüngste der großen griechischen Dramatiker nach Aischylos und Sophokles, der diesen Kindermord hinzuerfindet, weil der ja erst einen Konflikt erzeugt, der sich auf der Bühne tragisch darstellen lässt, nämlich den zwischen Racheplan und Mutterliebe. Denn sonst wäre Medea nichts anderes als eine skrupellose Mordmaschine, die für die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen vor keiner Gewalttat zurückschreckt. Und genau das war sie im Mythos. Euripides verwandelt Medea also paradoxerweise durch den Kindermord erst in ein menschliches, zu Leid fähiges Wesen, obwohl ihm schon in der Antike der Ruf anhängt, frauenfeindlich zu sein. Das meint auch die DDR-Autorin Christa Wolf, so erzählt es Thea Dorn in ihrem hellsichtigen Nachwort, die in ihrer Bearbeitung des Stoffes eine unschuldige, aber mächtige Zauberin Medea unterstellt, die erst der misogyne Dramatiker Euripides um 430 vor unserer Zeit in eine mordende Furie verwandelt habe.
Thea Dorns alternative Lesart sieht in Medea eher eine unterdrückte und gedemütigte Frau, die sich - vielleicht etwas robust - aus ihren Fesseln befreit. Sie schlägt vor, Medea als eine „thymotische Frau“ zu verstehen. „Thymos“ ist dabei ein antiker Zentralbegriff, der mehr als nur Wut und Zorn bedeutet, manchmal einfach Leidenschaft oder Kraft, und vor einiger Zeit vom Philosophen Peter Sloterdijk wieder hoffähig gemacht wurde, nicht ahnend, dass sein Schüler Marc Jongen ihn benutzen würde, um den Wutbürgern der AfD höhere Weihen zu verleihen. Euripides führt nun, so Thea Dorn, den Athenern im Dionysos-Theater eine starke Frau vor, deren Mächtigkeit sich komplett von der rechtlosen Wirklichkeit der Athener Frauen unterscheidet, aber gerade dadurch an die Frau erinnert, die der Stadt ihren Namen gegeben hat: Pallas Athene! Und Thea Dorns Clou: Die als Kriegerin eben nicht gleichzeitig Mutter sein konnte und darum also in gnadenloser Logik ihre Kinder töten musste. Mit einem seltsamen Happy End: der göttliche Helioswagen steht plötzlich bereit, um Medea nach den Morden zu ihrem Asylort Athen zu bringen, eine undramatische Lösung, die schon Aristoteles in seiner „Poetik“ unbefriedigt zurückgelassen hat.
Vertreibung, Exil, Asyl, Recht und Rache bilden den politischen Unterbau des Stücks. Euripides beschäftigt sich mit den gleichen existentiellen Fragen, die schon den dramatischen Übervater Aischylos in seiner wirkmächtigen Trilogie „Orestie“ umgetrieben haben. Wie lässt sich legitime Rache in eine Gemeinschaft integrieren, damit sie diese nicht sprengt? Euripides schafft mit der „Medea“ gleichsam die Travestie dieser dramatischen Blaupause. Denn während bei Aischylos es der Göttin Athene durch eine verfassungspolitische Innovation gelingt, die Rachegöttinnen der Erinnyen in Wohlgesinnte zu verwandeln und so Gewalt nicht zu negieren, sondern zu integrieren, bietet 27 Jahre später Euripides keine Lösung mehr an. Ein karrieristischer Egoist – ich will da rein – steht einem egoistischen Racheengel gegenüber. Was Euripides aufzeigt, sind die Bedingungen, die dazu führen. Heute würde man sagen, maximale Exklusionserfahrungen. Medea gehört nirgends dazu: sie ist Barbarin, wohl dunkelhäutig, Frau, zu alt, und immer schon gewaltbereit.
Sie wollte Jason vereinzeln, jetzt ist sie es selbst. Ihr Zorn ist ungebunden und darum zerstörerisch. Alle Formen der Hegung werden im Drama regelrecht hinweggefegt, ob Familie, Herkunft, Vernunft, zuletzt Mutterschaft. Euripides setzt einem Ideal-Athen als einem Ort der Seelenbalance und der politischen Ausgewogenheit eine Systemsprengerin gegenüber. Wie dieser Zusammenstoß ausgehen wird? Euripides weiß keine Antwort darauf.
Kurt Steinmann hat diesen aufwühlenden Text, wie immer, darf man sagen, in ein äußerst lesbares, sehr geschmeidiges, aber genaues Deutsch gebracht. Konsequent hält er metrisch den Jambus durch, so dass es sich unbedingt lohnt, den Text immer wieder laut zu lesen. Steinmann entscheidet sich immer für inhaltliche Klarheit und mogelt sich an keiner schwierigen Stelle vorbei, und davon gibt es einige. Kurz: Trotz des düsteren Inhalts ist dieses Buch eine echte Pracht und Freude.