SWR2 lesenswert Kritik

Étienne Kern – Die Entflogenen

Stand
Autor/in
Julia Schröder

Am 4. Februar 1912 sprang der Schneider Franz Reichelt vom Eiffelturm, um zu beweisen, dass sein selbstgebauter Fallschirmanzug funktioniert.

Doch Reichelt stürzte ab. Sein Todesfall gilt als der erste, der von einer Kamera gefilmt wurde. Der aus dem Elsass stammende Autor Étienne Kern hat daraus ein bemerkenswert feines Romandebüt namens „Die Entflogenen" gemacht.

In den Augen seiner Pariser Zeitgenossen war Franz Reichelt wohl ein Verrückter, der Mann, der am 4. Februar 1912 vom Eiffelturm in den Tod sprang, während die Menge zuschaute. Der Filmemacher François Truffaut nannte den aus Böhmen stammenden Schneider später das „erste Opfer des Kinos“, weil sein spektakulär gescheiterter Versuch, die Funktion seines selbstentworfenen Fallschirms zu beweisen, von zwei Kameraleuten gefilmt wurde. Heute ist Reichelt eine Internet-Berühmtheit, denn die bewegten Bilder seines Endes sind dort für immer als Video-Clip aufbewahrt. Nun haben sie ein schmales, aber bemerkenswertes Romandebüt inspiriert. Es heißt „Die Entflogenen“, und schon mit diesem mehrdeutigen Titel, im Original „Les Envolés“, deutet der Autor Étienne Kern die Rätselhaftigkeit seiner Hauptfigur an.

Warum sprang Franz Reichelt vom Eiffelturm?

Wer war Franz Reichelt? Was hat ihn auf die Plattform von Gustave Eiffels bestauntem Bauwerk geführt? Was hat ihn dazu gebracht, aus 57 Meter Höhe zu springen, im Vertrauen auf seine Konstruktion aus viel Seidenstoff, Stangen und Seilen, die er zuvor nur unter Einsatz von Schneiderpuppen ausprobiert hatte? Und was sagt seine Tat, sein Schicksal über seine Zeit?

Der Roman nähert sich diesen Fragen zunächst über Bildbeschreibungen, in denen ein Ich-Erzähler das Äußere seines Protagonisten schildert, ihn zuweilen direkt anspricht. Diese Beschreibungen wechseln sich ab mit Erzählpassagen, Szenen aus Franz Reichelts Jugend auf dem Dorf, seinen Lehrjahren und seiner Karriere als Schneider, die ihn nach Paris führte, zum eigenen Atelier im Opernviertel. In einfachen, ruhig rhythmisierten Sätzen werden das Denken und Empfinden, die Hoffnungen und Enttäuschungen der Menschen jener Jahre zwischen Jahrhundertwende und Kriegsausbruch in den Blick genommen.

Den Tod des Jugendfreunds wiedergutmachen

Die Fliegerei etwa, der Menschheitstraum, der damals eben erst Wirklichkeit wird. Franz‘ Jugendfreund ist derart von Flugapparaten fasziniert, dass er sein Vermögen hineinsteckt und schließlich verunglückt. Sein schrecklicher Tod ist im Roman eines der Motive für Franz, einen Fallschirm zu entwickeln, ein anderes die Tatsache, dass hohe Preisgelder dafür ausgelobt werden. Auf vertrackte Weise glaubt er an eine Art Wiedergutmachung an der Witwe des Freundes, in die er sich verliebt, und ist am Ende der zweite Mann, den sie an einen Traum vom Fliegen verliert. Einen Traum zudem, auch dies verschweigt der Ich-Erzähler nicht, der wenige Jahre nach Reichelts Tod als neue Technik totaler Kriegführung dient.

Zugleich ist dieses Buch eine Erzählung vom Entstehen eines Romans. Aus den Bildbeschreibungen werden nach und nach immer häufiger Beschreibungen von Recherchen, von Materialsammlungen für das eigene Projekt des Ich-Erzählers. Die Bilder von Reichelts Sturz treffen in ihm auf die traumatische Erinnerung an eine Freundin, die sich aus dem Fenster gestürzt hat, als ihre unheilbare Krankheit nicht mehr erträglich war.

Diese Schmerzerfahrung in Erzählung zu bannen, ist der eigentliche Gegenstand des Buchs, das zugleich etwas aufbewahren will von den Verschwundenen, den Weggegangenen, denn auch so kann man „Les Envolés“ übersetzen. Im Roman scheitert dieser Versuch; an die gesammelten Fotos von Reichelt, an die Filmbilder werde ein Buch niemals heranreichen, notiert der Erzähler, und wenn es geschrieben werde, könnte es, so wörtlich, „nur ein Rauschen (sein), durchzogen von Stille. Voller Lücken und Phantome.“

Das Verschwinden geliebter Menschen

Genau so ein Buch ist Étienne Kerns Roman geworden. Dessen autofiktionale Qualität gewinnt allmählich und sehr fein an Gewicht, die Gemeinsamkeit des familiären Herkommens aus dem deutschen Sprachraum etwa. In dem nach Paris ausgewanderten Böhmen Reichelt erkennt der Autor den eigenen, aus Ostpreußen ins Elsass verschlagenen Großvater wieder, der ebenfalls durch einen Sturz aus großer Höhe zu Tode kam. Und die eigene Ratlosigkeit angesichts des Laufs der Dinge, des unaufhaltsamen Verschwindens geliebter Menschen erkennt er wieder in der Melancholie, die er Franz Reichelt letztlich zuschreibt. Darin erinnert Étienne Kerns Debüt an die literarischen Spurensuchen der eine Generation älteren Autoren Patrick Modiano und W. G. Sebald. Im Unterschied zu beiden knüpft Kern, Jahrgang 1983, an die große Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts nur in leisen Hinweisen an. Das spricht für die sympathische Demut des Nachgeborenen.

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Autor/in
Julia Schröder