Emmanuel Carrère gilt neben Michel Houellebecq als einer der wichtigsten Schriftsteller Frankreichs. Und wie Houellebecq kümmert er sich um die ganz großen Fragen. 64 Jahre ist er jetzt, bekannt geworden in Deutschland durch seine große Auseinandersetzung mit dem, was Religion in seinem Leben angerichtet hat. Sein Roman „Das Reich Gottes“ war ein Riesenerfolg. Im neuen Roman „Yoga“ setzt er sich wieder mit dem Thema Spiritualität auseinander. Ein mitreißender Erfahrungsbericht aus der Unruhe einer bipolaren Seele.
Ursprünglich sollte es „ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga“ werden
Yoga war der Sport der Pandemie. Wenn man schon sonst niemanden sehen konnte, dann wollten viele wenigstens sich selbst begegnen. Für die meisten allerdings ist Yoga in der Pandemie nicht viel mehr geblieben als eine exotische Form der Gymnastik.
Mit Emmanuel Carrère hat sich jetzt einer der spannendsten französischen Schriftsteller des Themas angenommen. Ursprünglich sollte es „ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga“ werden, meint Carrère gleich am Anfang. Daraus geworden ist ein autofiktionaler Roman, der ans Eingemachte geht.
Gegenstand des Romans ist ein unglückliches Leben - Carrères eigenes Leben
Carrère macht sein Leben selbst zum Gegenstand des Buchs, und dieses Leben ist, so wie sich das Buch liest, sehr fragil, problematisch, schlicht unglücklich. Das gilt für die Politik, auch wenn 2020, als der Roman in Frankreich erschien, vom Ukraine-Krieg noch nicht und von der Pandemie erst verhalten die Rede war. Aber es gab die Anschläge auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ und die Flüchtlingskrise.
Andererseits geht es um den konkreten Wahnsinn einer Psyche mit einer massiven bipolaren Störung. Es ist Carrères Psyche. Die schien er aber im Griff zu haben, als das Buch einsetzt.
Nach vielen Jahren, in denen ich auf diese Frage umstandslos geantwortet hätte, es ginge mir schlecht oder sogar sehr schlecht und der Moment im Leben, in dem ich mich gerade befand, sei ganz besonders katastrophal, war es sogar erstaunlich, dass ich ohne zu lügen antworten konnte und dabei mein Glück sogar untertrieb, es ginge mir wirklich gut, ich hätte in letzter Zeit keine depressiven Phasen mehr gehabt, hätte weder Beziehungs- noch Familienprobleme und auch keine beruflichen oder finanziellen, und mein einziges echtes Problem - das sicher eines ist, aber doch ein Luxusproblem - sei ein anstrengendes, despotisches Ego, dessen Einfluss ich eindämmen wolle, und genau dafür sei Meditation schließlich da.
(Emmanuel Carrère: Yoga)
Zehn Tage zehn Stunden am Tag Schweigen, Einsamkeit - ein freiwilliger Seelen-Lockdown
Ein langer Satz, um zu sagen: Es geht mir vergleichsweise gut. Verschachtelt, aber dynamisch. Er ist typisch für dieses Buch.
Zuerst beschreibt Carrere ganz banal einen Besuch in einem Yoga-Seminar auf dem Land, in Laroche-Migennes zwei Autostunden südlich von Paris. Es ist ein besonders strenges Zentrum, Carrère nennt das Vipassana-Yoga, das hier praktiziert wird „Kampftraining des Yoga“, das Kapitel dazu ist mit „Nordkorea“ überschrieben.
„Wir sind elend, sehr elend, wir sind zum Leiden verurteilt“, meint der Yogalehrer Goenka
Zehn Tage zehn Stunden am Tag Schweigen, Einsamkeit, natürlich keinerlei digitale Geräte. Ein freiwilliger Seelen-Lockdown, in dem Carrère sich schon als Betrüger fühlt, weil er ein Notizbuch mitgenommen hat.
In dieser Stille nimmt man zuerst einmal die Störungen wahr. Die Ablenkungen, das Wirrwarr im Kopf. Vritti, das lernt man in Carrères Roman, ist das Wort dafür. Vritti sind die Regel. „Wir sind elend, sehr elend, wir sind zum Leiden verurteilt.“ Das meint Goenka, der wohl berühmteste Lehrer des Vipassana-Yoga, den Carrere mehrfach zitiert.
Emmanuel Carrère muss auf eines der Opfer des „Charlie Hebdo“-Anschlages eine Rede halten
Am zweiten Tag aber wird Emmanuel Carrère rausgerissen aus dem Seminar, am Seminarort gibt es für Notfälle ein Telefon. Der Anschlag auf „Charlie Hebdo“ ist so einer – Carrère muss raus aus dem Seminar und auf eines der Opfer des Anschlages eine Rede halten. Danach kommt er nicht mehr zurück.
In den Monaten danach durchlebt er eine stürmische Liebe und eine katastrophale Depression, die ihn in die Psychiatrie bringt. Der Weg zurück ins (normale) Leben geschieht bei einem Aufenthalt in Griechenland – wieder in politisch schwierigen Zeiten, es ist mitten in der Flüchtlingskrise.
Das Besondere bei Carrère ist wieder einmal die Art seines Schreibens, die bedingungslose Offenheit über das, was zu berichten ist. Dafür ist er berühmt. Das hat in diesem autofiktionalen Roman allerdings Grenzen, weil er über die Liebesaffäre nichts erzählen darf, die seine bipolare Störung getriggert hat. Man erfährt wenig über das, was wirklich passiert ist.
Der Fokus des Buches liegt auf Carrères Kampf mit der eigenen Psyche
Dadurch liegt der Fokus des Buches auf Carrères Kampf mit der eigenen Psyche. Und das ist ein großer Vorteil. Denn es passiert etwas Paradoxes: Das Buch zerfällt. Am Anfang geht es um Yoga. Im zweiten Teil dann geht es um die bipolare Depression. Aber Yoga, das wird am Anfang sehr schön erklärt, ist sowieso der Versuch, widerstreitende Energien in Einklang zu bringen, zwei Ochsen unter einem Joch zu vereinen. So nennt Carrère das. Das heißt, von der Bedeutung des Yoga, der Meditation et cetera lerne ich als Leser mit dem Autor über Zusammenbruch und Wiederherstellung.
Es ist ja mittlerweile dauernd die Rede von Yin und Yang, Auf und ab, vom Kreislauf des Lebens. Das ist oft kitschig und halbverstanden – bei Carrère bekommt es seine ganz neue, existenzielle Bedeutung zurück. Yin und Yang, als zwei Pole des buddhistischen Denkens – das trifft hier weniger auf das Prinzip von männlichem und weiblichem Denken als vielmehr auf manisch und depressiv. Es ist ein Riesenspannungsfeld. Und in dem bewegt sich Carreres höchst lesenswerter Roman so leichtfüßig wie kenntnisreich.
Der Roman ist im Wortsinne mitreißend erzählt
Vor allem auch, weil es im Wortsinne mitreißend erzählt ist. Vom Textfluss wird man wie von selbst durch die Untiefen, Strudel und Stromschnellen dieser Lebenskrise mitgenommen, und Claudia Hamm hat das (nicht zum ersten Mal bei Carrère) sehr überzeugend übersetzt. Es geht in „Yoga“ um alles, den ganzen Menschen und seine Versuche, mit einer Welt zurechtzukommen. Am Ende erwächst aus der lebenslangen Krise eine seltsame Klarheit.
Meditation ist zu pinkeln, wenn man pinkelt, und zu scheißen, wenn man scheißt. Da das auch mehr oder weniger alles ist, was ich zur Zeit tue, ohne das weiter ausführen zu wollen, denke ich manchmal amüsiert, dass ich nun endlich wirklich meditiere. Ich bin weder fröhlich noch traurig, ich werfe den guten alten Hunden ihre Stöckchen hin, das Stöckchen der Selbstgefälligkeit, das Stöckchen des Selbsthasses, das Stöckchen der verpassten Chance und des bitteren Geschmacks der verpassten Chance, und es ist ziemlich überraschend, aber Tatsache ist, ich fühle mich fast wohl.
(Emmanuel Carrère: Yoga)
Es gibt von Wilhelm Busch das schöne Gedicht:
Wenn einer, der mit Mühe kaum,
geklettert ist auf einen Baum,
schon meint,
daß er ein Vöglein wär,
so irrt sich der.
Man sieht dazu im Buch einen mühsam kletternden Frosch, der vom Ast fällt und leblos am Boden liegt. So ist Carrères Buch.
In „Yoga“ begegnet man Sisyphos
Es erzählt vom Autor als einem, der ewig wieder aufsteht und sich immer wieder mühsam aus der Niederlage herausarbeitet. Man könnte auch sagen: In „Yoga“ begegnet man Sisyphos. Als wirklich glücklichen Menschen, wie ihn Albert Camus noch sah, werden wir ihn nach der Lektüre dieses zutiefst berührenden Buches allerdings nicht mehr sehen können.