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Ella Al-Shamahi – Der Handschlag. Die neue Geschichte einer großen Geste

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Der Handschlag ist nicht nur ein versöhnliches und freundliches Begrüßungsritual, sondern womöglich Teil unserer DNA und viel älter als gedacht - das zumindest versucht die Paläoanthropologin Ella Al-Shamahi in ihrer „Neuen Geschichte einer großen Geste“ zu belegen.

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Erinnern Sie sich noch an die ungeschickten Abwehrgestiken, wenn Ihnen jemand während der Corona-Pandemie zu nahe und die Hand entgegenstreckte? Man erschrak und wich einen Schritt zurück, und der Grüßende, seinen Fehler bemerkend, erschrak meist ebenfalls – der Handschlag war tabu, ein Übermittler potentiell tödlicher Viren. In dieser Zeit machte sich die Paläoanthropologin Ella Al-Shamahi daran, die Kulturgeschichte dieser Geste genauer zu erforschen und aufzuschreiben.

Der Handschlag erzeugt Nähe, jedoch keine Intimität

In Al-Shamahis Jugend verbat es ihr der muslimische Glaube, Männern die Hand zu reichen – was in Großbritannien, wo sie aufwuchs, nicht ganz einfach war. Mit 26 löste sie sich von den strengen Vorschriften und lebte säkular – und fand enormen Gefallen an dieser vieldeutigen Form der Begrüßung, die große Nähe erzeugt und doch keine körperliche Intimität. Sollte Corona dieser fast universellen Geste den Garaus machen?

Ella Al-Shamahi war schon mitten in der Pandemie davon überzeugt, dass der Handschlag überleben würde. Der Handschlag hat im Laufe der Jahrhunderte viele andere Begrüßungsweisen verdrängt oder zumindest marginalisiert – vom Nasenreiben bis zum Penisschütteln, das von australischen Aborigines praktiziert wurde. Er ist die Lingua Franca mächtiger und einflussreicher Länder, die in weiten Teilen der Welt allgemein verstanden wird.

Eine Geste, die schon aus dem alten Mesopotamien bekannt ist

Die früheste bekannte Darstellung eines Handschlags, schreibt Ella Al-Shamahi, geht auf zwei alte mesopotamische Großmächte zurück: Babylonien und das Assyrische Reich. Das skulpturale Relief aus dem 9. Jahrhundert vor Christus zeigt einen Handschlag zwischen dem assyrischen König Salmanassar III. und dem babylonischen König Marduk-Zakir-Schumi I.

Die ältesten schriftlichen Verweise auf Handschläge stammen aus der Antike und finden sich in Homers Ilias und der Odyssee, datieren also aus dem achten Jahrhundert vor Christus. Vertrauen, Trost und Treueschwur, der Handschlag als Geste der Verbundenheit, des Friedens oder auch der Versöhnung. Wir kennen die Vermutung, dass man mit der offenen, entgegengestreckten Hand dem Gegenüber zeigen wollte, dass man keine Waffe trägt. Eine Errungenschaft im Prozess der Zivilisation also.

Ella Al-Shamahi geht in ihrem sehr unterhaltsam geschriebenen, sehr angelsächsischen, manchmal auch locker-flockig formulierten Sachbuch allerdings einen Schritt weiter: Sie hält ihn nicht nur für ein rein kulturelles Phänomen, „sondern für ein biologisches, das in unsere DNA einprogrammiert ist“. Sie versteht ihn als „Berührungseinheit“. Berührungen passieren intuitiv. „Der Handschlag“, schreibt Al-Shamahi, „der auf unsere Psyche so wertvoll wie tröstlich wirkt, gehört zu den Goldstandards menschlicher Interaktion.“

Sieben Millionen Jahre alt könnte die Geste sein, schätzt die Paläoanthropologin. Und führt dafür einige Argumente an: Bei indigenen, bislang nicht mit der Zivilisation in Berührung gekommenen Völkern wurde sie beobachtet. Schimpansen, mit denen wir die Vorfahren teilen, schütteln sich gerne die Hände.

Und es gibt auch biologische Indizien, die auf eine längere Geschichte der Begrüßungsform schließen lassen. Dabei geht es um Geruch und Berührung. Der Handschlag, so zitiert Al-Shamahi wissenschaftliche Studien, könnte als Liefersystem für chemische Signale dienen. Berührungen setzen Hormone frei und übertragen mit Gerüchen auch Informationen über das Gegenüber. Berührung bedeutet Trost und Empathie.

Ein Handschlag kann Trost spenden und Konflikte lösen

Und sie werden damit nicht zuletzt zum Symbol. Politisch bedeutsamen Handschlägen widmet sie sich in ihrem Buch ebenso wie historisch gewordenen Gesten: Als die Aids-Hysterie am größten war, besuchte Lady Diana HIV-positive Menschen im Krankenhaus und gab ihnen die Hand. Heitere Kapitel beschäftigen sich mit den schlechtesten Handschlägen der Geschichte und mit dem perfekten, nicht zu festen, nicht zu schlaffen Handschlag, in Form einer Anleitung.

Die Kurzform dieser Schule des Handschlags lautet – Zitat: „Überlegen Sie sich, was Donald Trump tun würde. Sehen Sie es vor sich? Okay, dann machen Sie jetzt das genaue Gegenteil.“ Beim Handschlag geht es nämlich um Höflichkeit, Ausgewogenheit, Gleichheit und zwischenmenschliche Wärme – und nicht um Wettbewerb oder das Niederringen eines Gegners.

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SWR