Es sind lyrisch-philosophische Prosaminiaturen, in denen Engelhardt Zwiesprache hält mit ihren Lektüren. Bislang kannte man sie vor allem als Literaturkritikerin. Jetzt etabliert sie sich langsam als Autorin. Sie schreibt nuanciert und trotz aller Intimität nie aufdringlich.
Schreiben ist auch Lesen. Obwohl ein Buch in der Regel von einem einzelnen Autor stammt, entsteht es nicht im luftleeren Raum. Es schreibt sich ein in eine Tradition oder lehnt sie ab. Elke Engelhardt weiß das. Sie hat für das Lyrikportal „Fixpoetry“ regelmäßig Bücher gelesen und klug eingeordnet.
Nun hat sie mit „100 sehr kurze Gespräche“ eine Sammlung mit exakt hundert Notaten aus hundert Tagen veröffentlicht, die einer reizvollen Schreibregel folgen. Sie lautet: Ein Satz aus einem fremden Text gibt die Initialzündung für einen eigenen, der auf ihn antwortet und dafür genau 100 Wörter verwenden darf. Das erinnert an die Schreibregeln des Autorenkreises Oulipo.
Schreiben über die Vergänglichkeit
So beginnt das erste Notat, das auf Rüdiger Görners „Ich sah dabei zu, wie die Tage einander Zeit entzogen“ reagiert, die Vergänglichkeit beklagend und bejahend:
Regelhaftes Schreiben, das mit dem kalkulierten Zufall arbeitet, kennt man etwa von Elke Erbs 5-Minuten-Notaten „Sonanz“ oder von Raymond Queneaus „Stilübungen“.
63 der hundert Sätze bei Engelhardt stammen aus Gedichten, Romanen und Essays von Autorinnen, 37 von Autoren. Manche kennt Engelhardt persönlich. Neben prominenten Namen wie Sylvia Plath oder Annie Ernaux, finden sich weniger prominente, darunter der der früh verstorbenen Kölner Lyrikerin Marie T. Martin, dieser:
Ein Inititialsatz kann auch lauten wie dieser aus „Der schwarze Hund. Eine Denkschrift über Depression“ von Les Murray:
Engelhardt antwortet:
Eine Symphonie aus Stimmen, Sprachmelodien und Wort-Klängen
Jeder hat eine Stimme, und die Symphonie der Welt, von der Engelhardt spricht, besteht aus diesen Stimmen. Sie besteht aus Sprachmelodien, aus rhythmischen, mal harmonischen, mal dissonanten Wort-Klängen. Und aus etwas, das man Denk-Klänge nennen kann.
So lassen sich diese konzentrierten, durchweg klugen Resonanztexte genauer charakterisieren. Sie reagieren auf die Initialzündungen, um über das Verhältnis ihrer Autorin zum Schreiben nachzudenken, oder über eigene Erfahrungen, etwa der, als Kind adoptiert worden zu sein.
Der Band klingt mal wie ein Traumtagebuch, mal wie eine Selbstvergewisserung, vielleicht sogar eine Selbstenthüllung. Der Ton ist nuanciert, nie aufdringlich in seiner Intimität. Die Regelhaftigkeit – aus hundert Sätzen werden hundert Texte – bot der Autorin, die ernst macht mit sich und dem Nachdenken über die Welt, Halt und Spielraum gleichermaßen. Es macht Spaß, lesend in diese Symphonie einzustimmen.