Buchkritik

Colson Whitehead – Die Intuitionistin

Stand
Autor/in
Marie Schoeß

„Die Intuitionistin“ klingt nach einem gewagten Romantitel – ein bisschen kompliziert, ein bisschen rätselhaft, nicht unbedingt eingängig. Eher ein Titel für einen Autor, der sich schon etabliert hat und sich so eine Kantigkeit leisten kann. Tatsächlich aber ist „Die Intuitionistin“ der Debütroman des mittlerweile zweifachen Pulitzer-Preisträgers Colson Whitehead.

Lila Mae Watson ist Fahrstuhl-Inspektorin, die erste Schwarze Frau in diesem Job und stolz auf ihren Aufstieg. Aus den Südstaaten ist sie in die Stadt gezogen, die wie keine andere für Aufbruch und Modernität steht. New York, der Name fällt nicht, wie auch das Jahr der Handlung nicht klar benannt wird.

Und doch ist klar, dass Lila Mae genau hier, in New York, einen neuen Anfang wagt – und das in einer Zeit, in der rassistische Begriffe wie „colored“ ganz selbstverständlich gebraucht werden.

Weiße sind Weiße, sagt ihr Vater

Der jungen Frau steckt dabei die Kindheit im Süden der USA noch in den Knochen, und der Vater im Ohr, der ihr vor dem Umzug zuraunte, sie solle sich doch nichts vormachen. Weiße seien Weiße, im Süden wie im Osten. Mit dieser Prägung bewegt sich Lila Mae nun also durch New York. Sorgt sich um die Sicherheit von Aufzügen. Und um die eigene:

Lila Mae war ab und zu im O’Connor’s, wenn ein Baseballspiel oder ein Boxkampf übertragen wurde, und bei jedem Jubeln sah sie sich nach einer potenziellen Waffe um. Da hilft es wenig, dass der Wirt stets mit einer großen Messingglocke läutet, wenn ein Gast kein Trinkgeld gibt; sie erschrickt jedes Mal. Sie erschrickt bei diesem Geräusch und auch bei dem der Startpistole, mit der hier Streit unterbunden wird, etwa hitzige Debatten über die diversen Vor- und Nachteile der Kühlung der Bremssysteme von United Elevator. Die Leute können jederzeit tollwütig werden; das ist das wahre Resultat verbesserter Integration: Der sichere Ausbruch von Gewalt wird durch den verzögerten Ausbruch von Gewalt ersetzt.

Empiristen versus Intuitionisten

Colson Whitehead hat sich für diese Protagonistin ein irrwitziges Szenario ausgedacht: Er verstrickt sie in einen Kriminalfall, lässt einen Fahrstuhl – just von ihr überprüft – im freien Fall abstürzen. Ausgeschlossen, dass sie etwas übersehen hat, denn:

Sie irrt sich nie.

Also muss detektivisch alles andere durchgespielt werden: Wer könnte ihr schaden wollen? Einer Schwarzen Frau, die aufsteigt? Was hat dieser Fall mit den zwei Lagern unter den Fahrstuhl-Experten zu tun? Es gibt die Empiristen – die jede Schraube von Aufzügen kontrollieren – und die Intuitionisten – die das Kontrollieren intuitiver angehen – und gerade stehen sich die beiden Seiten so verfeindet gegenüber wie heute Demokraten und Republikaner.

Ich bin in New York City aufgewachsen und da gab es ein Gesetz, nach dem Aufzüge dieses Inspektions-Zertifikat aufweisen müssen, das ich im Buch beschreibe. Und ich dachte: Wäre es nicht witzig, wenn ein solcher Aufzugs-Inspektor einen Kriminalfall lösen müsste? Also bin ich in die Bibliothek, habe nachgelesen, was ein solcher Inspektor an Fähigkeiten für einen Kriminalfall mitbringen würde. Und die Antwort war – natürlich – keine. Der inspiziert halt Aufzüge. Also dreht sich das Mysterium jetzt um Aufzüge und ich musste eine Welt erfinden, in der Aufzüge sehr wichtig sind. Eine alberne Idee, nüchtern durchgezogen.

Albern nur auf den ersten Blick, denn je länger Colson Whitehead diese Idee durchzieht, umso vielschichtiger und produktiver wird sie. Das Spiel mit Hell und Dunkel, schwarz, weiß, oben, unten, Absturz und Höhenflug steckt im Aufzug.

Man denkt an „racial uplift“

Gleichzeitig ist es das Symbol der Großstadt, ein Vehikel, ohne das modernes urbanes Leben nie möglich wäre, was einerseits an die Hybris des Menschen – des Menschen oder: des Weißen – denken lässt, sich über alles zu erheben.

Und andererseits an „racial uplift“, diesen enorm ambivalenten Begriff, der die afroamerikanische Elite an der Schwelle zum 21. Jahrhundert antrieb und die Idee beschrieb, sie, die Elite, müssten die Schwarzen im Ganzen „upliften“, materiell und moralisch nach vorne bringen. Ein Konzept, das selbst tief verstrickt ist mit dem Klassismus und Rassismus der Zeit, aus der es stammt.

Eine banale Entscheidung also: Wäre das witzig, eine postmoderne Detektivgeschichte mit einem Aufzugsinspektor als Protagonisten? Aber als ich begann, darüber nachzudenken, wurde der Aufzug keine rhetorische Spielerei, sondern eine Quelle von Metaphern ganz verschiedener Art.

Whitehead sprengt die Form

Überhaupt entwickelt der Roman „Die Intuitionistin“ eine enorme Tiefenstruktur. Eine Detektivgeschichte ist er nur auf den ersten Blick, nur oberflächlich: ein lustvolles Spiel mit dieser hoch-regelhaften Literaturform. Denn Colson Whitehead sprengt die Form – lässt seine Detektivin, Lila Mae, am Ende keinen Kriminalfall lösen – eigentlich gibt es da nämlich keinen Fall –, sondern wenn schon, dann den Fall Lila Mae aufklären: Lässt sie ihre eigene Identität neu anschauen, lässt sie Fragen nach race, nach Orientierung, nach Aufstieg und Solidarität, neu stellen.

Ein Bildungsroman also vielleicht, oder ein Künstlerroman, eine Emanzipationsgeschichte, getarnt als neue Variante der Watson-detective-story. In jedem Fall: ein großes Debüt!

Je älter ein Buch ist, umso mehr scheue ich mich, es nochmal in die Hand zu nehmen. Aber ich fühl mich gut damit – der junge Colson hat getan, was er konnte. (lacht) Er war 29, klar, würde ich heute was anders machen, aber: Ich hab das Beste gegeben und so werde ich das auch beim nächsten Buch machen: Das Beste geben, es nicht verderben.

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Rezension von Wolfgang Schneider.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Hanser Verlag, 384 Seiten, 26 Euro
ISBN 978-3-446-27754-0

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