Clemens Setz beschreibt im zweiten Gedicht einen Spaziergang durch Wien. Er schildert das Verhältnis von Krähen um Magnolien, erzählt von Fischen, die wie Schlüssel glänzen – und vom Unbehagen, wenn die Übertragungsqualität fehlt. Was malt der Soldat im Krankenhaus in Uschhorod? Und was davon kommt an beim Dichter beim Spazieren in der Wiener Vorstadt?
Kopf eines schwärzlichen Löwen, brüllend
Ich schaute im Gehen einen Bericht
über drei Soldaten in einem Krankenhaus in Uschhorod,
im Freien, an einem Tag Ende März
Es war so kalt und die Hunde auf der Straße
gingen mit ganz kleinen Augen
Zuerst war da Jewgeni, genannt Gulliver,
aufgrund seiner enormen Körperlänge
“Freiwillige suchten in ganz Uschhorod
nach Kleidern für ihn”, nichts passte
Er lag mit nackten Beinen im Bett
Dann Artjom, schwer verletzt,
träumte davon, seinen Sohn
von der Schule abzuholen,
irgendwann, in der Zukunft,
als echter Vater, in Kappe und Uniform
Und schließlich Serhij, vor dem Krieg Elektriker,
schweigsam, in sich ruhend,
bis eines Tages seine Frau
eine Leinwand mit ins Krankenhaus brachte
Seither malt er liegend
den ganzen Tag an einem Gemälde
Ich war nun wirklich weit gegangen
nur noch kniehohe Vorstadthäuser
mit Krempen statt Dächern
und Vorgärten voller Grottenbahngondeln
und der Filmbericht riss andauernd ab
bevor Serhijs Bild gezeigt wurde
Ich blieb stehen vor einem Haus
auf dessen Fensterbrett eine winzige Windmühle stand
mit dem Ausdruck meiner eigenen Stirnfalten
am frühen Morgen
Und ich spulte zurück, aber immer nur kamen
wir bis zu dem Punkt, da Serhijs Bild
für uns gedreht wird
Am Stadtrand von Wien
ging ich auf und ab
zwischen Krähen und alten Magnolienbäumen
Und es war entsetzlich, es kam einfach nicht
das Bild blieb immer nur stecken
Auf dem Heimweg dann
am noch summenden Wochenmarkt
die Leiber der Fische
silbern in der Sonne wie riesige Schlüssel
Lyrik | Preis Clemens Setz ist Poeta Laureatus 2024
Clemens Setz ist einer der Autoren, die wirklich weite und ausladende Brücken bauen können. Zwischen virtueller Welt und realem Alltag, zwischen Wahnsinnn und Vernunft, zwischen Netz und Erde. Eine fünfköpfige Jury wählte ihn nun zum Poeta Laureatus 2024.