In seinem ersten Roman „Die Unverhofften“ erzählt der Dramatiker Christoph Nußbaumeder auf 650 Seiten ein deutsches Jahrhundert als Dorfgeschichte. Ein Buch von Schuld, Lügen, Intrigen und Aufsteigern im Wirtschaftswunder.
Der 1978 in Niederbayern geborene Autor Christoph Nußbaumeder ist bislang vor allem als Theaterschriftsteller in Erscheinung getreten. Sein Debütroman ist ein Buch, das die Geschichte eines Dorfes und seiner Bewohner, strenggenommen also das Private, auf das Lebendigste und Unterhaltsamste mit den großen geschichtlichen Brüchen verbindet. Und es ist ein Roman, der den Zusammenhang von Landschaft und Mentalität atmosphärisch herstellt.
Das Dorf als geografische Grenze schränkt die Lebensweise der Bewohner ein
Das beginnt bereits damit, dass Nußbaumeder den dörflichen Schauplatz, an dem „Die Unverhofften“ seinen Ausgang nimmt, dezidiert als einen Ort inszeniert, an dem geografische Bedingungen den Menschen ihre Lebensweise aufzwingen:
Die Veränderungen im Dorf beginnen mit einer Brandstiftung
Wie so oft ist es auch bei Nußbaumeder die vermeintliche Peripherie, an der sich Konflikte, Tragödien und Schuldzusammenhänge in zugespitzter Form darstellen lassen. Am Anfang steht eine Glashütte in Bayern in Flammen. Sie hat den Bewohnern des Dorfes Eisenstein Arbeit gegeben – bis sie im August des Jahres 1900 einer Brandstiftung zum Opfer fällt.
Wer das Feuer gelegt hat, soll hier nicht verraten werden, doch eine der Kontinuitäten in „Die Unverhofften“ ist es, dass aus der Zerstörung in zynischer kapitalistischer Folgerichtigkeit noch größerer Reichtum erwächst.
Auf den Trümmern der Glashütte entsteht ein Sägewerk, das die Hufnagels zu einer reichen und mit der Macht der Besitzenden ausgestatteten Familie werden lässt. Nach dem Brand im Jahr 1900 unternimmt Christoph Nußbaumeder in der Chronologie einen großen Schnitt.
Eine Lüge steht im Zentrum des Romans
Im Jahr 1945 kommt Erna Schatzschneider als Kriegsflüchtende aus dem Osten nach Eisenstein, weil hier ein Onkel von ihr im Hufnagel’schen Sägewerk arbeitet. Im Wald hat Erna eine folgenreiche Begegnung mit einem sich ebenfalls auf der Flucht befindlichen Kommunisten.
Erna ist schwanger, doch die Vaterschaft für ihren Sohn Georg, der 1946 geboren wird, schiebt sie dem verheirateten Sägewerksbesitzer Josef Hufnagel unter, mit dem Erna ein kurzzeitiges Verhältnis hat.
Diese Lüge steht im Zentrum des Romans, denn sie ist der Auslöser für eine Reihe von Lebensentscheidungen, die sich wie im Dominoeffekt durch die folgenden Jahrzehnte hindurch ziehen.
Bereits in jungen Jahren wird Georg eine große Verantwortung übertragen
Georg Schatzschneider wird zur Hauptfigur des Romans. Josef, sein vermeintlicher Vater, hält große Stücke auf den Jungen. Während Josef Hufnagel mit Erfolg seine ehrgeizigen politischen Ambitionen verfolgt, überträgt er dem noch minderjährigen Georg die Verantwortung für das Sägewerk:
Die Erzählung reicht bis ins Jahr 2019
Von nun an begleitet Nußbaumeder sein Personal bis ins Jahr 2019 durch die Geschichte der Bundesrepublik. Wir erleben den Aufstieg des ehrgeizigen Georg, der das Dorf verlässt und eine Baufirma gründen wird, die vom Boom der Wirtschaftswunderzeit profitiert.
Geschickt hat Nußbaumeder ein großes Tableau an Figuren arrangiert, das sich ungefähr alle zehn Jahre – soweit liegen die Kapitel jeweils auseinander – in unterschiedlichen und oft überraschenden Konstellationen wiederbegegnen wird.
Neben Zeitkolorit kommt auch die politische Stimmung der jeweiligen Zeit zum Vorschein
Es wird geheiratet und geschieden, gefeiert und gestorben, vor allem aber immer wieder getrickst und getäuscht, und es zählt zu den Verdiensten dieses Romans, dass Nußbaumeder neben einer Menge Zeitkolorit und nostalgisch angehauchten Accessoires auch die jeweilige politische Gestimmtheit der Epochen transportiert.
Mit dem Aufstieg Georgs, der dank geschickter Spekulationen zu einem der reichsten Männer des Landes wird, geht ein Paradigmenwechsel einher: Geld wird zu einem abstrakten Zahlenspiel.
Aus der Familie Schatzschneider wird eine Dynastie
Die Arbeit und ihr Wert entkoppeln sich von den Menschen, die sie leisten. Der Begriff der Dynastie, der letztendlich auch nur auf dem Prinzip von Blut und Boden basiert, wird abgelöst durch den des Imperiums.
Nußbaumeder zeigt, wie ein Lebenswerk so groß werden kann, dass es den Menschen, der es geschaffen hat, unter sich begräbt. Und zugleich läuft im Hintergrund unerbittlich eine Schicksalsuhr ab, die mit Ernas Urlüge in Verbindung steht: Der junge Georg hatte sich seinerzeit in Josefs eheliche Tochter Gerlinde verliebt.
Ernas einstige Lüge steht der Liebe im Weg
Josef hatte diese innige Verbindung zweier Liebender verhindert in dem Glauben, Gerlinde und Georg seien Halbgeschwister. Es hätte also alles anders kommen können. Als Erna Josef einige Jahre vor ihrem Tod die Wahrheit sagt, stürzt das Konstrukt von Existenzsicherheiten in sich zusammen:
Der Roman ist eine mitreißende Lektüre für stille Wintertage
„Die Unverhofften“ ist tatsächlich ein Schmöker im besten Sinne. Wer das Buch zur Hand nimmt, wird in den Sog der windungsreichen Geschichten und Lebenswege der Figuren hineingezogen.
Wem gehört was? Wer verfügt über das Kapital und wer über die Deutungshoheit von Biografien? Diese Fragen laufen stets untergründig mit. Doch in erster Linie ist Nußbaumeders Debüt ein mitreißender Roman – und eine wunderbare Lektüre für lange, stille Wintertage.