Es ist mutig, heute einen 800-Seiten-Roman vorzulegen – die Saison ist schnell vorbei, die nächste steht schon vor der Tür, und in der Öffentlichkeit verschwindet so ein Buch dann schon wieder, bevor es überhaupt besprochen wurde. Frank Witzel vertraut auf die Langzeitwirkung. Und tatsächlich: Wenn man sein Buch erstmal in die Hand nimmt und zu lesen beginnt, wird schnell klar, dass es hier nicht um bloße Saisonware geht. Hier hat einer alles in die Waagschale geworfen. Dass dieser Autor seine Generationserfahrungen, die dazugehörigen Theorien, Lebensgefühle und vor allem die prägende Musik immer wieder lustvoll durcheinanderquirlen kann, hat er in einigen kleineren Büchern schon bewiesen. Aber hier setzt er zu seinem Hauptmanifest an.
Witzel ist 1955 geboren und gehört einer Altersgruppe an, die zu jung für die 68er-Bewegung war, zwangsläufig aber in deren politischen Diskurs hineingewachsen ist. So richtig bierernst konnte man das allerdings nicht mehr nehmen, zu sehr war die Sache schon im Abflauen begriffen. Und der große Vorteil der Nachwachsenden war, dass sie die Popmusik schon ganz selbstverständlich internalisiert hatten – das war etwas, was man nicht erst erkämpfen musste, es stand längst zur Verfügung. Die Beatles-Singles auf dem verheißungsvollen kleinen Plattenteller sind auch mit das Wichtigste, von dem der Hauptprotagonist in Witzels Roman berichtet. Der Lebenssound ist bereits da, bevor man sich mit anderen Dingen auseinandersetzt.
Das Pop-Gefühl ist aber auch untrennbar mit der Politik verbunden. Im Sommer 1969, dem titelgebenden Ausgangsszenario des über alle möglichen Chronologien, Handlungsabläufe und literarischen Genres unermüdlich hinwegtänzelnden Buches, ist das sonnenklar. Man weiß zunächst nicht, wie alt hier die genannten Personen sind, aber man hat auf der ersten Seite gleich das Gefühl, mitten in der Untergrundszene zu sein: da rast ein NSU-Prinz, der gerade mal 120 Sachen macht, mit Rückenwind bergauf und raus aus dem verschneiten Dorf, einer schreit, der Fahrer soll sich rechts halten, damit die Bullen sie in den Kurven aus den Augen verlieren – und erst allmählich merkt man, dass es sich hier um eine jugendliche Clique handelt, die sich "Rote Armee Fraktion" nennt, das Logo dafür aber vom örtlichen Turnverein abpaust, mit Wasserpistolen im Handschuhfach agiert und und Indianer-Plastikfiguren "Andreas Baader" und "Gudrun Ensslin" tauft.
Frank Witzel spielt geschickt mit pubertären Phantasien, realen Geschehnissen und kleinstädtischen Grenzüberschreitungen. Die Erfahrungswelt des 13-jährigen weitgehend namenlosen Erzählers zieht sich durch den gesamten Roman, mit ihren Motivketten aus der hessischen Provinz, aber sie wird durchkreuzt von Szenen aus den vorangeschrittenen siebziger Jahren, plötzlich befindet man sich in der Mitte der neunziger Jahre und dann wieder in einem Looping, der die fünfziger Jahre evoziert – die Gegenwart allerdings, das spürt man in jeder Zeile, ist in diesem Buch permanent vorhanden.
Die immer wieder aufgerufene Ursprungsszene ist die, dass die Teenager den Spielzeugladen von Frau Maurer in Wiesbaden-Biebrich überfallen, einen gelben NSU knacken, "weil das ein Titel von Cream ist", und deswegen von der Ortspolizei wirklich als Terroristen gesucht werden. Aus dem ursprünglich geplanten Namen "Tupamaros von Biebrich" wird dann die "Rote Armee Fraktion", noch bevor am 14. Mai 1970 Andreas Baader in der Westberliner Miquelstraße in der Selbstdarstellung seiner Gruppe "befreit" wird und das offzielle Gründungsdatum der RAF feststeht.
Dieses Spiel zwischen subjektiver Erinnerung, konkret ausgemalten Provinzszenen und den großen politischen Verwerfungen inszeniert Frank Witzel auf sich ständig verändernde Weise. Der "manisch-depressive Teenager", durch dessen rosarote Beatles-Brille wir in diesen Romankosmos blicken, wird dabei mit dem erwachsen gewordenen Erzähler konfrontiert bis hin zu einem großen Monolog vor seinem Tod. Historische Rückblenden, darunter vor allem auch auf den Nationalsozialismus als Motivquelle für deutsche Mythenbildungen, wechseln ab mit landläufigen Verschwörungstheorien, für die Witzel eine besondere Vorliebe hat, mit musikalischen Exegesen und religiösen Auseinandersetzungen.
Die katholische Kirche ist für den 13-Jährigen zunächst überpräsent. Nicht zuletzt erlebt er durch die "Frau von der Caritas", die seine Mutter nach ihrem Schlaganfall versorgt, ein erstes verqueres sexuelles Prickeln: dass sie nach einer Autopanne ihren Strumpfhalter als Keilriemen zur Verfügung stellt, führt mitten hinein in die Phantasien am Ende der sechziger Jahre und weist weit voraus.
Es gibt am Ende dieses wahnwitzigen Buchs ein Register von vierzehn Seiten, in dem man alle vorher aufgeführten Begriffe aus Fernsehsendungen, Filmen, Popmusik, Technik- und Zeitgeschichte sowie sämtliche fiktionalen und realen Personen nachschlagen kann. Witzel improvisiert einmal sehr lang über Jean Pauls "Rede des toten Christi vom Weltgebäude herab", ein anderes Mal überträgt er Michel Foucaults "Wahnsinn und Gesellschaft" passagenweise direkt auf seine Hauptfigur.
Dass es Snickers aber auch "ursprünglich in einer roten Verpackung" gab, weist darauf hin, wie weit Witzels Archiv reicht. Konsumartikel und ausgefuchste Gitarrenläufe von Jimi Hendrix erstellen genauso das Weltbild wie Zeilen von Karl Marx oder Theodor W. Adorno. Maßstab ist hier nicht die schnöde Mainstream-Psyche bundesdeutscher Bürgerkinder, sondern das artifizielle Durchdrehen eines David Foster Wallace oder gar Thomas Pynchon. Also, wenn das nichts ist!