SWR2 Buch der Woche vom 13.5.2019

Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robbe

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer

Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robbe

"Tage in Cape May" ist Chip Cheeks erster Roman und führt ins Amerika Ende der 50er Jahre. Eine Epoche, die durch Serien wie Mad Men und die Romane von Richard Yates wieder verstärkt in den Blick geraten ist.

Chip Cheek nutzt diese Zeit als Kulisse für einen Roman, in dem ein junges Paar aus paradiesischer Unschuld vertrieben und in ein Gefühlschaos versetzt wird:

Henry und Effie verbringen ihre Flitterwochen in Cape May, einem Ferienort an der Westküste und ein ziemlich ödes Kaff in der Nebensaison.

Lebendig wir es erst, als sie auf Clara treffen, die eine schillernde Gruppe von New Yorkern um sich versammelt. Man betrinkt sich, man liebt sich, und Henry und Effie geraten in eine Situation, die den Rest ihres Lebens prägen wird.

Ein Roman über Liebe, Sexualität und Loyalität im Spiegel des Kulturwandels der späten 50er Jahre und ein großes Lesevergnügen.

Nach Kurzgeschichten folgt nun Cheeks erster Roman

Autor Chip Cheek
Autor Chip Cheek

Chip Cheek, geboren 1976, hat bisher in amerikanischen Literaturzeitschriften Kurzgeschichten veröffentlicht. Einige Zeit lang hat er bei GrubStreet in Boston mitgewirkt, einer der bekanntesten, nicht kommerziellen Creative Writing-Schulen in den USA. Alles, was er heute sei, verdanke er GrubStreet, hat Chip Cheek in einem Interview gesagt.

"Es ist bei weitem die einladendste, ermutigendste, disziplinierteste, engmaschigste, äußerst talentierte, aber auch äußerst unprätentiöse Gruppe von Schriftstellern, von der ich je gehört habe. Ich habe viele Jahre in der GrubStreet Fiktion unterrichtet, und dann arbeitete ich als Oberlehrer, der für die Einstellung neuer Ausbilder und die Entwicklung neuer Programme zuständig war", so der Autor.

Inzwischen lebt er mit seiner Frau und einem gemeinsamen Kind an der Westküste der USA. "Tage in Cape May" ist sein erster Roman.

Ein Urlaubsort bestimmt die Atmosphäre

Cape May, ein Ferienort zwischen der Delaware Bay und dem Atlantik ganz im Süden von New Jersey, hat Cheek ausgewählt, weil er dort mit Schriftsteller-Freunden öfter Schreibaufenthalte verlebt hat und die Atmosphäre des Ortes für sein Buch nutzen wollte.

Dass sein Roman in den 50er Jahren spielt, hat sich allerdings erst im Laufe der Arbeit an dem Buch herausgestellt – zuerst war die Geschichte, wie er in einem Interview erläuterte, in den Zwanzigern angesiedelt. Dass "Tage in Cape May" nun auf das Jahr 1957 datiert ist, ergibt allerdings durchaus Sinn.

Ein junges, frisch vermähltes Paar geht auf Hochzeitsreise

Just married – Henry und Effie sind eigentlich noch gar nicht richtig aus ihrer Pubertät herausgeschlüpft, da finden sie sich schon auf einer Hochzeitsreise wieder. Der Highschool-Abschluss liegt nicht lange zurück, ihre Liebe ist noch ganz unschuldig. Es ist der September 1957.

Der 20-jährige Farmerssohn und die 18-jährige Kaufmannstocher aus der tiefsten Provinz – sie stammen aus Georgia – sind zum ersten Mal von zu Hause weg. Und zum ersten Mal sind sie wirklich allein, aber das in noch viel stärkerem Maß, als sie gedacht hätten.

Der im Sommer so belebte Ort enttäuscht Effie und Henry

Dieses Städtchen ist Cape May. Ein Onkel von Effie hat dort ein Haus, in dem sie als Kind ihre Ferien verbracht hat. Eigentlich ist es ein traumhafter Ort, der viel Abwechslung verspricht, belebte Restaurants und andere junge Menschen, die ebenfalls auf Vergnügung aus sind.

Aber eben nur im Sommer. Obwohl Effie und Henry nun endlich erkunden dürfen, was es mit dem biblischen "sich erkennen" auf sich hat – man muss wissen, dass sie beide äußerst christlich erzogen sind und vor dem Schlafengehen mit gefalteten Händen beten –, werden ihnen die zwei Wochen doch lang.

Die Reise verkommt zur Langeweile

Zwar überwinden sie bald die Scheu vor dem Körper des anderen, sie spazieren einmal sogar übermütig und nackt durchs nächtliche Cape May und lieben sich wie im Paradies unterm Sternenzelt – aber doch langweilt sie der Aufenthalt schon rasch. Nach einer Woche wollen sie zurückkehren in das Leben, das ihnen die nächsten Jahrzehnte bevorstehen wird.

Das ist die Ausgangskonstellation des Romans "Tage in Cape May" von Chip Cheek. Aber natürlich lässt der amerikanische Autor seine Helden nicht einfach in den Alltag aufbrechen.

Die Tage der Einsamkeit sind gezählt

Er hält etwas für sie bereit, mit dem sie nicht gerechnet hätten und das ihre junge Ehe gleich in ihrer ersten euphorischen Phase auf eine ernsthafte Probe stellt.

Ein wildes Fest verlockt das sonst so vernünftige Paar

Tags darauf klopfen sie an dem beleuchteten Haus an, um Bekanntschaft mit den einzigen Nachbarn zu schließen. Und zur Überraschung von Effie öffnet eine Frau, die sie aus ihrer Kindheit kennt – Clara, eine Freundin ihrer älteren Cousine. Effie konnte damals beide nicht ausstehen.

Allerdings gibt es nun kein Entkommen mehr: Das junge Paar wird willkommen geheißen, mit Gin zum Bleiben verführt und schließlich zu einem rauschenden Fest eingeladen, auf dem es von mondänen New Yorker Geschäftsleuten, Bohemiens und Künstlern aus den besseren Kreisen nur so wimmelt.

Schnell geben sie ihren Widerstand auf und vergnügen sich. Die Abreise wird auf unbestimmte Zeit vertagt. Die Flitterwochen beginnen erst jetzt so richtig.

Es folgen verrückte Tage wie im Traum

Nachdem die Party-Horde abgereist ist, bleiben nur Clara, ihr Liebhaber Max, ein Möchtegern-Schriftsteller, und dessen verschrobene Stiefschwester Alma zurück. Die Tage in Cape May nehmen nun einen fast unwirklichen Charakter an:

Der Alkohol fließt in Strömen, man macht Bootsausflüge, kommt sich immer näher, die erotische Spannung steigert sich von Seite zu Seite, die Spätsommertage entwickeln sich für die beiden Landeier aus Georgia zu einem flirrenden und verwirrenden Tagtraum.

Die gemeinsame Vorstellung der Zukunft muss neuen Ideen weichen

Henrys Vorstellung von sich selbst als ein tugendhafter, bescheidener, mutiger Mann, stets gut gelaunt, aber alles wohldosiert genießend und seiner Rolle als braver Ehemann entgegensehend – diese Vorstellung wird schon nach ein paar Stunden in Gesellschaft dieser neuen, wie aus einem anderen Universum in Cape May gelandeten Freunden von imposanteren Visionen verdrängt:

Was Henry zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen kann: Die Party markiert auf gewisse Weise nicht nur einen Beginn, sondern auch einen Endpunkt. Natürlich ahnt die Leserin bzw. der Leser relativ rasch, dass die sexuell aufgeladene Atmosphäre eine Handlung in Gang setzt, die früher oder später in die Katastrophe mündet.

Der Autor spürt der inneren Zerrissenheit der Figuren nach

Denn Chip Cheek, der hier zwar sein Roman-Debüt vorlegt, aber schon lange schreibt und Schreiben auch unterrichtet hat, ist mit allen handwerklichen Wassern gewaschen: Ihm gelingt es, die Unruhe im Innern seiner Helden zu erzählen. Er führt den Leser zurück in eine Zeit, die man aus Romanen von Richard Yates oder John Cheever kennt.

Er trifft deren Ton genau – immer liegt da noch etwas Unausgesprochenes zwischen den Zeilen. Die späten fünfziger Jahre sind eine Zeit des Aufruhrs: Noch herrschen die strengen Regeln des Nachkriegsamerika, die Rollenbilder funktionieren zumindest in den meisten Milieus weiterhin ziemlich gut. Aber es schleichen sich schon die ersten Irritationen ein.

Die Hochzeitsreise gerät allmählich zu einem Kulturschock

Die Kriegsangst – manchmal hört man ein Radiogerät, das Meldungen über die Rüstungserfolge der Sowjets verkündet – ist allgegenwärtig. Die moralischen Codes werden nicht mehr von allen fraglos übernommen. Zwei Jahre zuvor war James Dean auf der Leinwand als rebel without a cause zu sehen gewesen, Marlon Brando gibt im Kino den Outlaw, und die bohemistische Künstlerszene vor allem in Manhattan räumt mit althergebrachten Sittsamkeitsvorstellungen auf.

All das färbt natürlich ab. Es ist ein Kulturschock für Henry und Effie. Und zugleich ausgesprochen verlockend. Was Chip Cheek allerdings von zeitgenössischen Autoren wie Yates und Cheever unterscheidet, ist nicht unbedingt ein stärkerer Fokus auf die alle Gewissheiten auflösende Kraft der Sexualität. Sondern deren explizite und ausgiebige Darstellung.

Ein geordnetes Leben rückt in weite Ferne

Die Entfesselung und Entgrenzung, die in diesem Buch nicht nur Henry, sondern auch Effie erfasst, bringt all das ins Wanken, was in Aussicht steht: ein Leben in geordneten Bahnen. Das Zerstörerische der Sinnlichkeit ist vom ersten Moment an spürbar.

Die Tage in Cape May bestehen aus Ekstase und Angst, Euphorie und Schmerz, Lust und Desillusionierung. Manchmal scheint es Henry, er könnte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überschauen – jedoch nur, wenn er ewig in diesem Schwebezustand des Spätsommers verharren würde.

Nach dem Traum folgt das Erwachen

Aber der Herbst kündigt sich da schon an. Und er weiß insgeheim, dass der somnambulen Wahrnehmung des Geschehens ein böses Erwachen folgen wird.

Effie und Henry stehen symbolisch für den Wandel der Gesellschaft

"Tage in Cape May" bildet jene Ambivalenzen des Empfindens ab. Die entstehen ja meist, wenn etwas zu Ende geht und etwas Neues beginnt. So symbolisiert die Geschichte des jungen Paares natürlich auch jenen Übergang von den Werten der Nachkriegszeit zu einer moderneren, durchaus gespaltenen Gesellschaft der 60er.

Was man an diesem – neudeutsch gesagt – Pageturner vielleicht bemängeln könnte, ist, dass die Erzählmaschine von Chip Cheek ein bisschen zu geschmiert läuft. Die Kulisse in übertriebenes Technicolor getaucht ist. Und das Buch fast schon nach Verfilmung schreit.

Aber das Lesevergnügen ist, auch dank Bernhard Robbes feiner Übersetzung, zweifelsohne groß.

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Autor/in
Ulrich Rüdenauer