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Hein ist einer der wichtigsten Autoren der späten DDR
Christoph Hein, einer der wichtigsten Schriftsteller der späten DDR, denkt nicht daran, sich aufs literaturgeschichtliche Altenteil zurückzuziehen. Der 1944 im schlesischen Heinzendorf geborene Autor legt ein Spätwerk vor, das Respekt gebietet. Erst im vergangenen Jahr erschien der umfangreiche Roman „Glückskind mit Vater“, der vom historisch belasteten Leben eines Mannes in der DDR erzählte, dessen Vater ein hochrangiger SS-Offizier und zum Tode verurteilter Kriegsverbrecher war.
Nach dieser Vertiefung in die deutsche Geschichte folgt nun ein Jahr später wiederum ein fast 500 Seiten starkes Werk, das sich zu einem großen historischen Panorama auswächst: „Trutz“ lautet der Titel. Wolfgang Schneider bespricht den Roman.
Ein Schriftsteller gerät ins Visier der Nazis
Rainer Trutz ist ein junger Mann aus der mecklenburgischen Provinz. Um 1930 geht er nach Berlin, in die Metropole der niedergehenden Weimarer Republik, gekennzeichnet von Arbeitslosigkeit, Massenelend und politischen Unruhen. Er versucht sich als Schriftsteller und Journalist zu etablieren, erlebt Desillusionierungen im auch damals schon schnelllebigen Literaturbetrieb, lernt unterdessen aber auch die reizende Gewerkschaftlerin Gudrun kennen und genießt mit ihr seine erste große Liebe. Diese einleitenden Kapitel haben etwas von Fallada, erinnern an die Atmosphäre von „Ein Mann will nach oben“ oder „Kleiner Mann, was nun?“.
Dann gerät Rainer Trutz unvermutet ins Visier der Nazis. Mit seinem kleinen Roman über die deutsche Provinz hat er Anstoß bei ihnen erregt. Ein rechter Schlägertrupp sucht Trutz und seine Freundin heim. Knapp können sie auf den Dachboden entrinnen und beobachten von dort durch ein Loch in der Decke, wie ihre Wohnung verwüstet wird; beklemmend geschilderte Szenen. Trutz geht zur Polizei. Der Beamte dort stärkt allerdings nicht das Vertrauen in die Behörde.
Diese Frage sollte er besser nicht beantworten. Bald darauf kommt Hitler an die Macht, und Trutz steht auf der schwarzen Liste. Dank Vermittlung einer lettisch-russischen Freundin kann er mit Gudrun in die Sowjetunion emigrieren; er ist wenig begeistert, aber andere Wege der Emigration bleiben ihm verschlossen.
Nun macht er sich Hoffnungen, für eine Emigrantenzeitung zu arbeiten. Es mangelt im Moskau von 1933 jedoch nicht an emigrierten deutschen Intellektuellen. Das Haupthindernis besteht allerdings darin, dass er kein Mitglied der kommunistischen Partei ist. Ein Redakteur wäscht ihm den Kopf:
Das wird also nichts. Trutz muss stattdessen in einer Emigrantenbrigade an Stalins Prestigeprojekt der Moskauer U-Bahn schuften. Immerhin hat sein Leben einen neuen Sinn bekommen: seinen kleinen Sohn Maykl.
Christoph Heins Roman ist beeindruckend, weil er nicht nur große Bögen historisch-biographischen Erzählens bietet, sondern dabei auch lebensphilosophische Motive sehr gekonnt einarbeitet: Zufall und Erinnerung. Der Zufall ist ein Grundakkord in der Geschichte von Rainer Trutz. Ein Unfall in Berlin trägt dem jungen Schriftsteller eine Bekanntschaft ein, die sein ganzes Leben prägen wird. Und eine unscheinbare Literaturkritik wird ihm schließlich zum tödlichen Verhängnis.
Ein kleiner Text hat große Folgen für Trutz
Noch in Deutschland bespricht er für die „Weltbühne“ einen Sammelband mit Reiseberichten aus der Sowjetunion: Deutsche Schriftsteller entrichten dem Arbeiterparadies darin ihren opportunistischen Tribut. Trutz traktiert das Machwerk mit Ironie. Ein Jahrzehnt später wird er anhand dieses kleinen Textes in der Sowjetunion denunziert und ins Straflager nach Workuta deportiert.
Von zerstörten Leben und den Schrecken dreier Diktaturen erzählt der Roman; darüber hinaus hält Christoph Hein aber auch einige erzähltechnische Schocks bereit. Rainer Trutz ist über fast zwei Drittel des Buches die Hauptfigur, und man ist gewohnt, dass Hauptfiguren – was immer ihnen zustoßen mag – zumindest bis in Reichweite des Finales kommen. So erwischt es auch den Leser kalt, wenn über viele Seiten die überaus strapaziöse Reise ins sibirische Straflager geschildert wird, Trutz dort dann aber gleich nach der Ankunft von kriminellen Mithäftlingen ausgeraubt und erschlagen wird.
So abrupt-brutal wurde selten ein Held, mit dem der Leser mitfühlt, abgeräumt. Gerade dadurch aber vermittelt sich stark der Eindruck tödlicher Willkür als Charakteristikum der Epoche. Sogar der Lagerleiter ist wegen dieses Vorfalls ein wenig verärgert; lassen sich die vielen sogenannten „Arbeitsunfälle“ doch kaum noch bei den übergeordneten Stellen plausibel machen. Er stellt den Mörder zur Rede:
Die sowjetische Säuberungsmaschine beseitigt auch den zweiten Protagonisten
Der zweite, an vielen Stellen mit der Trutz-Geschichte verbunden Erzählstrang widmet sich dem Sprachforscher Waldemar Gejm. Der Roman ist – und darin liegt freilich auch Ironie – eine Hommage auf einen vergessenen Gedächtnisforscher. Gejm, Pionier der Mnemonik, lehrt in den dreißiger Jahren an der Moskauer Universität. Sein Ziel ist das perfekte, unbegrenzt aufnahmefähige Gedächtnis. Er entwickelt Methoden des Erinnerungstrainings, die er an seinem Sohn Rem und dessen besten Freund – keinem anderen als Rainer Trutzs Sohn Maykl – mit erstaunlichem Erfolg testet.
Beide zeichnen sich bald durch Hochleistungsgedächtnisse aus, die alles speichern, was sie einmal gelesen oder gehört haben. Doch auch Professor Gejm kommt als vermeintlicher „Trotzkist“ und „Volksfeind“ unter die Räder der sowjetischen Säuberungsmaschine. Statt weiter an der Universität zu lehren, muss er Garderobendienst in einem kleinen Theater machen. Während des Zweiten Weltkriegs wird er wie der größte Teil der russisch-deutschen Bevölkerung ins Ural-Gebiet deportiert und dann, als er sich gerade mit einer bescheidenen Existenz als Grundschullehrer abgefunden hat, noch zu verschärfter Zwangsarbeit verurteilt. Das hält er nur wenige Wochen durch.
Ein unbestechlichtes Gedächtnis ist nur schwer zu ertragen
Auch Gudrun Trutz stirbt entkräftet in der Deportation. Maykl wird nach Jahren im Moskauer Waisenhaus ausgebürgert in die DDR; ihm sind die letzten hundert Seiten des Romans gewidmet. Er glänzt dank seines wohltrainierten Gedächtnisses im Studium, aber die ihm vorausgesagte Karriere kommt nicht zustande, weil auch er sich weigert, in die Partei einzutreten – ein wahrer Trotz- und Trutzkopf, der die bitteren Erfahrungen seiner Familie buchstäblich nicht vergessen kann und nun selbst unter Schikanen und Denunziationen zu leiden hat. Er wird als Archivar auf ein berufliches Abstellgleis geschoben. Auch seine Ehe scheitert – weil ein Mann mit unbestechlichem Gedächtnis nicht nur für die Mächtigen, sondern auch für eine Ehefrau schwer zu ertragen ist.
Figuren sind gefangen im multiplen Totalitarismus des 20. Jahrhunderts
Seit je sind die Figuren Christoph Heins Gekränkte und Trotzende. Sie haben unvergessene Demütigungen im Gepäck; es gibt etwas richtigzustellen und gut zu machen in ihrem Leben. „Trutz“ handelt von Menschen, die ins Mahlwerk des multiplen Totalitarismus im 20. Jahrhundert geraten. Viele bedeutende Werke sind darüber bereits geschrieben worden. „Trutz“ braucht sich vor ihnen keineswegs zu verstecken, vielmehr gelingt es Hein, das Geschehen und die historischen Umstände mit außerordentlicher Eindringlichkeit zu vermitteln. Etwa die prekäre Lage, in die viele Antifaschisten in der Sowjetunion gerieten, als Hitler und Stalin 1939 ihren Pakt schlossen.
Über Nacht hatte auf der einen Seite die antifaschistische, auf der anderen die antikommunistische Propaganda zu schweigen. Dieser deutsch-sowjetische Freundschaftsspuk war ein Verhängnis für die deutschen Emigranten, die nun die Auslieferung befürchten mussten, um dann, mit Beginn des Russlandfeldzugs, wiederum als Kollaborateure Hitlerdeutschlands traktiert zu werden.
"Trutz" hätte den Buchpreis verdient
Gebannt liest man diese Leidensgeschichte zweier Familien. Und das, obwohl der trockene und spröde Ton einer gründlich recherchierten Chronik das Buch dominiert. Manchmal übertreibt es Hein ein wenig mit der Schmucklosigkeit. „Ihm war erinnerlich“ – solche Formulierungen müssten nicht sein, Lakonie verträgt sich durchaus mit ein wenig Eleganz. Das ist aber nur ein kleiner Makel dieses Romans.
Christoph Hein ist ein wirklich bedeutendes Werk gelungen, das man in diesem Frühjahr unweigerlich neben das thematisch verwandte Erinnerungsbuch „Sie kam aus Mariupol“ von Natascha Wodin stellt. Wodin hat dafür den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten; zu Recht. Christoph Hein hätte ihn für „Trutz“ ebenfalls verdient.