SWR2 Buch der Woche vom 27.02.2017

Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol

Stand
Autor/in
Stefan Berkholz

Natascha Wodins "Sie kam aus Mariupol" ist ausgezeichnet mit dem Alfred-Döblin-Preis 2015 und mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2017.
Natascha Wodin erzählt die Geschichte ihrer Mutter, die aus der ukrainischen Hafenstadt Mariupol stammte und in die Fänge zweier Diktaturen geriet: Als junge Frau erlebte sie den Untergang ihrer Adelsfamilie im stalinistischen Terror, 1944 wurde sie von den Nazis als „Ostarbeiterin“ nach Deutschland verschleppt, überlebte die Zwangsarbeit und zerbrach daran.

Zwischen Ideologien zerrieben

Natascha Wodin kam im Dezember 1945 als Kind verschleppter sowjetischer Zwangsarbeiter im bayerischen Fürth zur Welt. Sie wuchs in deutschen Übergangslagern auf und kam nach dem frühen Tod ihrer Mutter in ein katholisches Mädchenheim. Später übersetzte sie aus dem Russischen und lebte zeitweise in Moskau. Als Schriftstellerin machte sich Wodin einen Namen vor allem mit autobiographisch geprägten Romanen, unter anderem mit der schonungslos ehrlichen Schilderung ihrer leidenschaftlichen Liebesgeschichte zum Dichter und Schriftsteller Wolfgang Hilbig unter dem Titel: "Nachtgeschwister". Nun erzählt Natascha Wodin vom Schicksal ihrer weit verzweigten Familie. Im Titel nennt Wodin die Heimatstadt ihrer Mutter: "Sie kam aus Mariupol".

Vom Adel zur Zwangsarbeit

Wie ausgeliefert Menschen der Geschichte ihrer Zeit sind, wie hilflos den politischen Kräften ausgesetzt, das veranschaulicht Natascha Wodin in ihrem großartigen Buch. Es ist so etwas wie eine Geschichte von unten, die Spurensuche nach ihrer zwischen den Ideologien zerriebenen Familie, ihr Lebensbuch, wie die 71-jährige Schriftstellerin sagt. Schon vor über dreißig Jahren hatte Natascha Wodin "Die gläserne Stadt" verfasst, den "Versuch einer Autobiographie", wie sie den Text heute bezeichnet. Es war ihr Debüt, damals hoch gelobt. Heute sei das Buch eigentlich überholt, sagt die Schriftstellerin. Denn sie war damals naiv, habe nichts von den politischen Hintergründen ihrer Familie geahnt. "Die längste Zeit meines Lebens", schreibt sie heute, "hatte ich gar nicht gewusst, dass ich ein Kind von Zwangsarbeitern bin". Sie wusste nicht, dass ihre ukrainischen Eltern zur Zwangsarbeit in Nazi-Deutschland verurteilt worden waren. Sie habe nur gemerkt, dass sie – Zitat - "zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übriggeblieben war".

Ein Buch über die Mutter

Vor vier Jahren begann sie auf gut Glück im russischen Internet zu stöbern, denn sie hatte vor, ein Buch über ihre Mutter zu schreiben, eine kleine Erzählung nur. Durch ihre Recherchen erfährt Natascha Wodin, dass ihre Mutter in ein adliges Elternhaus in Mariupol geboren wurde, ein sonniges, friedliches Städtchen in der Ukraine, eine Hafenstadt am Meer, am Strand gelegen, damals Sowjetunion. Die Mutter kam jedoch drei Jahre nach der Oktoberrevolution von 1917 zur Welt, da war das adlige Leben zum Untergang verurteilt, die Verfolgung hatte eingesetzt, die Angst. Die Mutter "war mitten hineingeboren in den Bürgerkrieg, den Terror, den Hunger, die Verfolgung", erkennt Wodin, sie kam in jenen apokalyptischen Zeiten mit "einer angeborenen Schuld" auf die Welt, "eine Wurzellose von Anfang an", schreibt die Schriftstellerin in "Sie kam aus Mariupol".

Stalin, Hitler und der Vorwurf des Verrats

Nach 1917 wurden Adlige drangsaliert, verfolgt, deportiert, getötet. Die Angst war allgegenwärtig, die Angst begleitete die Mutter ein Leben lang. Zuerst der Terror Stalins, dann der Zweite Weltkrieg, die Flucht, Zwangsarbeit unter Hitler, und dann auch noch der Vorwurf, mit dem Feind kollaboriert zu haben. Ja, so verrückt, so verdreht und kriegerisch war die Zeit: Wer von den Nazis nach Deutschland verschleppt worden war, um als Zwangsarbeiter in der Kriegsindustrie Hitlers verwertet zu werden, galt nach Kriegsende in der Heimat auf einmal als Verräter. Wer zurückkehren musste in die Sowjetunion, war erneut vom Tod bedroht. Mit sechsunddreißig Jahren hielt Natascha Wodins Mutter ihr wurzelloses Dasein nicht mehr aus, sie gab sich endgültig auf und nahm sich das Leben. Wir erfahren in dieser Spurensuche eine Ungeheuerlichkeit nach der anderen: wie in der Sowjetunion nach der Revolution aller Besitz der Vermögenden geplündert, zerstört, vernichtet wurde. Wie auf deutschem Reichsgebiet mehr als vierzigtausend Nazi-Lager entstanden, wovon dreißigtausend Zwangsarbeitslager waren.

Der Riss in der Familie

Natascha Wodin erkennt nach und nach den Riss, nein: den Abgrund, der sich in ihrer Familie auftat und der die einen zu Verfolgten und andere zu Opportunisten und Parteimitgliedern machte. Denn auch diese gab es in ihrer Familie. Sie erzählt anhand von Aufzeichnungen ihrer Tante die Gräuel nach 1917, veranschaulicht "Stalins großes Kollektivierungsexperiment" Anfang der 1930er Jahre, "das später auch als Genozid am ukrainischen Volk in die Geschichte eingehen wird". Sie skizziert schließlich das Sterben und das Überleben im Gulag, in dem einige Familienmitglieder landeten. Das ist lebendige, anschauliche, fragende, verzweifelte, rührende Geschichtsschreibung, Doku-Fiction, wie die Autorin es bezeichnet. Ein ergreifendes Buch, das persönlich gehaltene Dokument einer Spurensuche.

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Stefan Berkholz