Diskutiert auf Platz 1 der SWR Bestenliste Mai 2024
Eine Rückkehr nach Reims, aber nur fast. Das Buch mit dem gleichnamigen Titel, 2016 auf Deutsch erschienen, hat Didier Eribon berühmt gemacht. Eribon erzählt von einem Aufwachsen in einem undurchlässigen Klassensystem, von der Abwendung der Arbeiterschaft von sozialistischen Idealen hin zum rassistischen Front National, aber auch von seiner eigenen Homosexualität in einem zunehmend homophoben Umfeld.
Und nun: Fismes. Nur zweimal ist er dort gewesen, und „dies zu einer Zeit, als ich noch dachte, dass dieser dreißig Kilometer nordwestlich von Reims gelegene Ort mit seinen paar tausend Einwohnern über Monate oder sogar Jahre hinweg einer der Bezugspunkte meines Lebens sein würde.“ Eribons Mutter ist in ein Pflegeheim in Fismes gezogen. Nur wenige Wochen lebt sie dort; dann stirbt sie. Dieser Tod ist der Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion, zunächst aber für Vorwürfe gegen sich selbst: Was, so fragt der Sohn sich, hat man der Mutter angetan? Warum hat man sie in diese „kalte, unmenschliche Kulisse“ gebracht?
„Leben, Alter und Sterben“ lautet der Untertitel des Buchs. Es geht um mehr als nur um Persönliches; es wird eine paradigmatische Biografie erzählt: Aufgewachsen ist die Mutter als ungewolltes Kind in einem Waisenhaus, hat als Putzfrau gearbeitet und in einer Fischfabrik; ist mit einem gewalttätigen Hilfsarbeiter die Ehe eingegangen. Ein Frauenleben in unwürdigen Verhältnissen. Ein Systemfehler, der noch im Altersheim seine Fortsetzung findet: „Meine Mutter war ihr Leben lang unglücklich.“