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Angelika Klüssendorf – Risse

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AUTOR/IN
Julia Schröder

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Angelika Klüssendorfs Erzählungen sind klassische Shortstorys, mit disziplinierter Kühnheit aufgebaut und sprachlich aufs Wesentliche konzentriert. Nun erscheinen zehn Geschichten einer schwierigen Kindheit und Jugend in der DDR in neuer Aufmachung. Verkauft wird „Risse“ als „Roman“. Keine gute Idee.

„Das Mädchen ist zurück“, so kündigt der Piper-Verlag das neue Buch von Angelika Klüssendorf an. Ein Trigger für die Fans ihrer autobiografisch begründeten Romane „Das Mädchen“, „April“ und „Jahre später“.

Kritik wie Leserschaft waren begeistert von der genau gearbeiteten Schilderung einer lieblosen Kindheit in der DDR, einer ärmlich-wilden Jugend und einer schwierigen Ehe.

Alle drei Bücher waren für den Deutschen Buchpreis nominiert – wie auch „Risse“, Klüssendorfs neuer Band. Er trägt die Gattungsbezeichnung „Roman“. Tatsächlich jedoch versammelt er Erzählungen, die 2004 unter anderem Titel erschienen und vergriffen sind.

Dies ist zu erfahren im Buch selbst, die Autorin hat nämlich die einzelnen Geschichten mit überleitenden Erklärungen ergänzt. In literarischer Hinsicht war das keine kluge Entscheidung.

Für sich genommen, zeigen die zehn Erzählungen in großer Verdichtung die Qualitäten einer Prosa, deren Urheberin ihr Metier beim Lesen gelernt hat. Ein wiederkehrender Topos sind Bücher und selbstersonnene Geschichten als Trost und Fluchtort von Kindern, die vernachlässigt und misshandelt oder zum Klauen geschickt werden.

Diese regellose oder von unverständlichen Regeln beherrschte Lebenswelt schildert Angelika Klüssendorf mit disziplinierter Kühnheit. So kühn wie souverän ist etwa der Umgang mit der Perspektive.

Im ersten Text, „Die Großmutter im Kirschbaum“, ist die Erzählstimme zunächst personal, wechselt allerdings: von der einer jungen, ungefestigten Frau in einer enttäuschenden Ehe mit einem Mistkerl und Möchtegern-Künstler zu derjenigen eben dieses Mannes und zurück und schließlich zu der der kleinen Tochter der beiden.

Attacke beim Kindergartenausflug

Zwischendurch aber spricht diese Tochter in Ich-Form. Davon, wie die Mutter eine halbe Flasche „Goldbrand“ kippt, wie sie selbst beim Kindergartenausflug andere Mädchen attackiert, weil die schönere Schuhe haben als sie selbst, wie sie danach betet mit den Worten, die sie gelernt hat von ihrer verstorbenen Großmutter, der einzigen liebevollen Person in ihrem Leben.

So erschafft Klüssendorf jeweils in wenigen, zumeist einfachen Sätzen einen Mikrokosmos aus Gewalt und Zärtlichkeit, Scham und Hoffnung, Nähe und Verachtung. Immer spielen kleine oder heranwachsende Mädchen eine Rolle, aber nicht immer erzählen sie selbst.

Mal erinnert sich eine Erzieherin im Kinderheim an das Mädchen, das immer wieder abhaute, obwohl die Strafen drakonischer wurden. Mal spricht der Freund eines Jungen, der das heranwachsende Mädchen vor vielen Jahren an der Ostsee in die Heide gelockt hat.

Klüssendorfs Erzählungen als „slices of life“

Klüssendorfs Erzählungen sind klassische Shortstorys, ein, zwei Dutzend Seiten lang oder kürzer, „slices of life“, aus demselben Milieu, aber allenfalls lose zusammenhängend, was sich vor allem in wiederkehrenden Motiven zeigt – der grausamen Gefallsucht der Mutter etwa, der künstlerischen Ader des Vaters, den dünnen Beinen des Mädchens. In welchem Umfang darin autobiografisches Material verarbeitet ist, ließen die Texte bei der Erstveröffentlichung nicht erkennen.

Diesen autobiografischen Zusammenhang stellt die Autorin nun nachträglich her. Ihre Zwischentexte sollen ergänzen, was sie seinerzeit beim Schreiben weggelassen hat, sollen die Bruchstücke verbinden zu einer Art Selbstporträt aus der Rückschau der erwachsenen Frau, die von sich sagt: „Die Scham über meine Armut war meine eigentliche Kleidung.“

Leider schwächt diese Mixtur die Wirkung der ursprünglichen Erzählungen. Zumal hier ungefiltert „ich“ gesagt wird und diese nachgereichten Bekenntnisse arg selbsttherapeutisch anmuten. So nimmt Klüssendorf ein Jugendfoto, zugleich das Umschlagmotiv, zum Anlass einer Selbstergründung, die in der Frage gipfelt: „Wie könnte es aussehen, ein mir gemäßes Leben?“

Zehn starke Erzählungen

Angelika Klüssendorf selbst hat sich verwahrt gegen eine allzu biografistische Lesart ihrer Romantrilogie. Weshalb nötigt sie ihrer Leserschaft nun genau diese Lesart auf? Die zehn Erzählungen sind für sich genommen ungeheuer stark und haben jede Neuausgabe verdient.

Sie mit deutlich weniger gelungenen Überleitungen aufzublasen, ergibt jedoch keinen großen autofiktionalen Roman, es ergibt überhaupt keinen Roman. Dass die Verlagswerbung zum Vergleich Tove Ditlevsen und Annie Ernaux aufruft, die Ahnfrauen der Autofiktion, lässt ein Kalkül vermuten, das die Erzählerin Angelika Klüssendorf gar nicht nötig hat.

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Julia Schröder