Gespräch

„Biografien erzählen nicht die Wahrheit“: Angela Steidele startet Poetik-Dozentur in Mainz

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Interview
Martin Gramlich

Ihre Spezialität sind Biografien. Aber auch für Romane erhielt die aus Bruchsal stammende Literaturwissenschaftlerin Angela Steidele schon Preise. Jetzt startet sie ihre Mainzer Poetik-Dozentur unter dem Titel „Leben ist auch nur Kunst“ und erklärt im Gespräch mit SWR2, was beide Literaturgattungen verbindet und was sie trennt.

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Biografien vermischen Gegenwart und Historie

Biografien knüpfen an Erzählmuster an, die die meisten Menschen auch für sich selbst benutzen. „Wir erzählen uns unser eigenes Leben in Biografien“, meint Angela Steidele, „deshalb sind Biografien der Hit am Literaturmarkt.“

Für Autor*innen bestehen jedoch nach ihrer Ansicht ein paar Probleme, die sie nicht aus den Augen verlieren sollten: „Da mischen sich immer sehr vertrackt zwei Ebenen“, so Steidele. Biografien würden zwar in der Gegenwart geschrieben werden, sie handelten aber von einer historischen Gestalt – oft aus Zeiten, in denen ganz anders gedacht und agiert wurde.

Persönliche Vorlieben von Autor*innen beeinflussen Biografien

Schon die Dokumente, anhand derer Biografien recherchiert werden, sind zeitabhängig. „Zum Beispiel hat man die Haushaltsbücher von Goethe lange nicht als Quelle betrachtet“, erklärt Steidele – das sei erst geschehen, als man mit feministischen Fragestellungen an Goethes Leben herangetreten sei.

Dazu kommt: Meistens habe man als Autor*in zu viel historisches Material, sodass eine Auswahl getroffen werden muss. „Und dann gibt es immer persönliche Vorlieben“ glaubt die Literaturwissenschaftlerin und berichtet von ihrer Biografie über eine Freundin der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff, die auch eine Kennerin römischer Münzen gewesen sei. Da sie von diesem Fachgebiet aber keine Ahnung gehabt habe, habe sie diesen Aspekt weitgehend ausgeblendet.

SWR2-Buchkritik zu Angela Steideles „Poetik der Biographie“:

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Biografien verraten nur eine These über ein Leben

Im Gespräch mit SWR2 gibt sich Steidele überzeugt: „Jede Biografie braucht auch eine These, eine Fragestellung, einen Filter.“ Eine platte Darstellung eines Lebens anhand von Fakten interessiere die Leser nicht. Insofern sei jede Biografie nur eine Annäherung.

Das einzige, was man sich abschminken muss, ist, dass in Biografien die Wahrheit steht.

Im Gegensatz zu Biografien fehlen Romanen die Quellen

Das sei auch nicht schlimm, denn jeder Mensch versuche zu seinen Lebzeiten schon eine Sinnkonstruktion seines Daseins. „Wir selber konstruieren eine Zwangsläufigkeit, die so im Leben wahrscheinlich nicht stattgefunden hat.“ Man dürfe diesen Fakt aber nicht aus dem Gedächtnis verlieren.

Zum Verhältnis von Roman und Biografie meint Steidele, beide Textarten seien bei den Vorarbeiten gar nicht sehr unterschiedlich: „Viele Romane sind extrem gut recherchiert, nur werden die Quellen nicht im Text genannt.“ Bei einer seriösen Biografie brauche es dagegen Nachprüfbarkeit und deshalb Merkmale wie Fußnoten und ein Quellenverzeichnis.

Angela Steideles Roman „Aufklärung“ im lesenswert Quartett:

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