Der große französische Mittelmeerhistoriker Fernand Braudel prägte 1949 den Begriff der „longue durée“. Mit dem Konzept der „langen Dauer“ rückte er strukturelle Gegebenheiten wie Geographie oder Wirtschaftssysteme in den Mittelpunkt, die über der Ereignisgeschichte schweben und diese wesentlich prägen.
Ein mustergültiges Beispiel für eine Geschichtsbetrachtung aus dieser Perspektive liefert der aus Indien stammende und in den USA lebende Schriftsteller Amitav Ghosh mit seinem neuen Buch „Der Fluch der Muskatnuss“.
Heimat der Muskatnuss: Die indonesischen Banda-Inseln
Ausgangspunkt sind die zu den Molukken gehörenden Banda-Inseln, die Heimat jenes exotischen Gewürzes, das im 16. Jahrhundert einen Wettlauf zwischen den europäischen Seemächten auslöste. Die Muskatnuss war ein Fetischobjekt, sie galt außerdem als Wundermittel gegen die Pest, ihr Wert überstieg zeitweise jenen des Goldes.
Die Niederlande behaupteten sich Anfang des 17. Jahrhunderts gegen Portugal und setzten sich auf den Banda-Inseln fest. Als sich die dortigen Muskatbauern gegen das holländische Handelsmonopol zur Wehr setzten, unternahm die Niederländische Ostindien-Kompanie eine „Strafexpedition“, die an Grausamkeit kaum zu überbieten war. Binnen zehn Wochen forderte sie mehr als 10.000 Menschenleben, die lokale Bevölkerung wurde beinahe komplett ausgelöscht.
Europäische Zeitgenossen sprachen von einem „Massaker“, Ghosh mit guten Gründen von „Genozid“. Der Muskatnussanbau wurde von da an direkt von den Niederländern kontrolliert, die Arbeit verrichteten importierte Sklaven. Das Blutbad auf den Banda-Inseln zur Steigerung der holländischen Profite ist Ghoshs Einstieg in eine kleine und überaus düstere Geschichte der Moderne. Er analysiert, wie der westliche Imperialismus in einem unheilvollen „Joint Venture“ mit Philosophie und Naturwissenschaften alles vermeintlich „Rückschrittliche“ symbolisch entwertete und Plünderung und Raubbau legitimierte.
Erde vom westlichen Imperialismus zur Ausbeutung freigegeben
Die in anderen Kulturen mit Bedeutung aufgeladene, lebendige Erde ist in der Kultur der Moderne laut Ghosh nichts anderes als eine „natürliche Ressource“, die nur darauf wartet, ausgebeutet zu werden. Und die – einmal erobert, ausgebeutet und „erschöpft“ - rasch langweilig wird.
So wünscht sich der Pilot in einem berühmten amerikanischen Kriegsgedicht, den „heillosen Fesseln“ der Erde zu entkommen, ein Traum, den auch ein bekannter Tech-Milliardär verfolgt, wenn er die Besiedlung des Mars ins Auge fasst. Aber die Erde ist nicht „erschöpft“, ist Ghosh überzeugt. Man habe ihr nur „ihre Bedeutung“ genommen, sie zu einer „leblosen Entität“ degradiert. Dabei wende sich die kolonialistische Logik des Raubbaus gerade gegen sich selbst, schreibt Ghosh:
Wir brauchen wieder „vitalistische Weltbilder“ von einer lebenden Erde
Wenig verwunderlich sieht Ghosh die Lösung der herannahenden planetaren Katastrophe weder im Bau unterirdischer Bunker in Neuseeland noch im stratosphärischen Geoengineering. Seiner Meinung nach können nur „vitalistische“ Weltbilder, wie sie indigene Gemeinschaften vertreten, den Teufelskreis aus Hybris, Profitstreben und Naturzerstörung durchbrechen.
Eine wichtige Rolle bei diesem Kultur- und Mentalitätswandel könnten Künstler, Filmemacher und Schriftsteller spielen. „Nichtmenschliche Stimmen“ der Natur, meint Ghosh, müssten wieder „in unseren Geschichten mitsprechen“.
Amitav Ghosh ist Schriftsteller, kein Wissenschafter, und das ist dem Text anzumerken. Er steckt voller gewagter Hypothesen und überraschender Sprünge ins Heute. Alles an diesem Essay ist ambitioniert: Die Bandbreite der Themen, der Zeitraum, die geographische Abdeckung.
Und doch ist „Der Fluch der Muskatnuss“ ein angenehm ruhiger, klarer und überzeugender Text, dem eine stille Kraft innewohnt. Ghosh ist ein originelles Buch von schonungsloser Radikalität gelungen, das jenen eine Stimme gibt, für die das Projekt der Moderne keine Sprechrollen vorgesehen hat.