Im Jahr 1964 wäre Patrick Nothomb im Kongo beinah erschossen worden. Darüber hat der Diplomat mit „Dans Stanleyville" (1993) selbst ein Buch geschrieben. Inzwischen ist er verstorben, und seine Tochter, die belgische Erfolgsautorin Amélie Nothomb, füllt die Leerstellen. In der Romanbiografie „Der belgische Konsul" erzählt sie, was ihr Vater in seinen Memoiren ausgespart hat. Sensibel, klar und unerwartet heiter.
Von August 1964 bis zu ihrer Befreiung im November werden etwa 1500 Weiße in einem Hotel in Stanleyville, dem heutigen Kinsangani, gefangengehalten. Vier Jahre nachdem die Demokratische Republik Kongo sich von den Kolonialherren emanzipiert hat, wollen kommunistische Rebellen die Anerkennung einer Volksrepublik Kongo im Osten des Landes erpressen. Der 28-jährige Patrick Nothomb ist eine der Geiseln. Erst vor Kurzem hat er seine Stelle als belgischer Generalkonsul angetreten. Jetzt muss er sein ganzes diplomatisches Geschick aufwenden, um das Leben der Gefangenen zu schützen. Eigentlich widerstrebt ihm das alltägliche Palaver mit den Geiselnehmern. Aber er weiß: Solange Menschen miteinander sprechen, schweigen die Waffen. Um den Verstand nicht völlig zu verlieren, klammert er sich nachts an zwei Romane von Jean Giono und Stefan Zweig.
Romanbiografie über Amélie Nothombs Vater
Nun hat Amélie Nothomb mit „Der belgische Konsul" eine ergreifende Romanbiografie über ihren Vater geschrieben. Darin lässt sie ihn erzählen, was in ihm vorgeht, als er schließlich doch vor ein Erschießungskommando gestellt wird. Diese Nahtoderfahrung bildet den erzählerischen Rahmen für einen Flashback in Kindheit und Jugend. Patricks Vater, ein Soldat, starb einst bei einem Manöverunfall. Die Mutter flüchtete auf Cocktailpartys und ließ ihren Sohn einsam bei ihren Eltern in Brüssel zurück. Dort wuchs Patrick in gutbürgerlichen Verhältnissen auf, bis er im Sommer vor seiner Einschulung zu seinem Großvater in ein verfallenes Schloss in die Ardennen geschickt wurde. Hier litt er unter Hunger und Kälte und den Schikanen einer wilden Kinderbande, aber er erlebte auch die Magie der poetischen Sprache. Einige Jahre und wenige Buchseiten später wird er dank ebenjener Sprachmagie seine Frau kennenlernen. Kurz darauf zieht das Paar nach Kinshasa im Kongo. Es ist Patricks erste Auslandsstelle als Diplomat.
Vor einem Erschießungskommando im Kongo
In Amélie Nothombs Kurzromanen stehen Erzählzeit und erzählte Zeit häufig in einem Missverhältnis. Diesmal zwängt sie 28 Jahre Lebensgeschichte in ein Romankorsett von weniger als 150 Seiten. Aber die Konstruktion hält, weil Nothomb sich auf wenige biographische Szenen beschränkt. Sie alle sind auf den einen Moment ausgerichtet, in dem ihr Vater in zwölf Gewehrläufe blickt, schwankend zwischen Todesbereitschaft und Lebensdrang. Einer klugen Antwort auf die Frage des Rebellenführers, ob er ein drittes Kind wolle, verdankt nicht nur der Vater sein Leben, sondern letztlich auch die Autorin selbst. Denn dieses Kind ist Amélie.
Verlusterfahrungen, Liebesvakuum und Einsamkeit. Die lebensrettende Macht von Sprache und Literatur. Diese Motive durchziehen das Gesamtwerk von Amélie Nothomb. Und so wie der im Privaten so verschlossene Vater an der Schwelle zum Tod um sein Leben redete, so schreibt die Tochter seit jeher um ihres.
Amélie Nothombs dreißigstes Buch
Die Geschichte ihrer eigenen Kindheit und Jugend hat Amélie Nothomb in ihren bekanntesten Büchern als eine der mehrfachen Entwurzelung geschildert: Mit ihrem Diplomatenvater hat sie die halbe Welt bereist, aber erst eine Woche vor seinem Tod konnte der ihr sagen, dass er sie liebe. Selbst als sie mit zwölf Jahren von vier Männern vergewaltigt wurde, fand er für das Unsägliche keine Worte. Nothomb wurde zunächst magersüchtig. Dann machte sie die Literatur zum Füllstoff für die Risse in ihrer Vita.
Mit ihrem dreißigsten Buch hat Amélie Nothomb nun einen Höhepunkt in der fiktionalen Paraphrase ihrer Familiengeschichte erreicht. Dazu hat sie die Tonlage gewechselt. Der Zynismus früherer Werke ist einer feinen Ironie gewichen. Obwohl der Wortwitz des französischen Originals in der Übersetzung ein Stück weit verlorenging, ist „Der belgische Konsul" kein melancholisches Requiem, sondern eine Ode an das intensive Leben. Und eine schöne Liebeserklärung an einen vaterlosen Vater, der nicht so recht wusste wie das ging, Vater sein.