In diesen Tagen können politisch Interessierte auf Social Media noch echte Spontaneität erleben: Die Aktentasche von Olaf Scholz zum Beispiel, die zur ersten improvisierten TikTok-Serie des Kanzlers wurde.
Denn im Wahlkampf ist offenkundig vielen Parteien schlagartig klar geworden, dass sie einen blinden Fleck in ihrer Medienstrategie lange genug ignoriert hatten: Der Konkurrenz von der AfD ist kein Ausspielweg zu unseriös, um bei der Reichweite zu punkten.
Nicht alle Inhalte auf TikTok sind bedenklich
Wobei unseriös natürlich ein zu verkürzender Begriff ist, um TikTok zu beschreiben – denn dazu ist der Content dort zu vielfältig und stammt eben oft auch von Experten, die ihre Aussagen mit Quellen untermauern.
Am ehesten trifft vielleicht die Einschätzung von Sascha Lobo zu, der am 21.02.24 in seiner SPIEGEL-Kolumne schrieb: „TikTok geht als das gegenwärtig wohl machtvollste, korrektivärmste und aufmerksamkeitsstärkste Einflussmedium hinein in Köpfe unter 30 Jahren.“
Gerade in der Zusammenarbeit mit Künstlicher Intelligenz sieht Lobo noch große Veränderungen auf uns zukommen, denn nach Fake News droht nun die Fake Reality, wenn TikTok-Videos nicht nur komplett von KI erstellt und hochgeladen, sondern auch nach ihrem jeweiligen Erfolg gehend automatisch kuratiert und verbessert werden. Und das wie am Fließband.
Von Star Wars zu identitären Inhalten: Ein Katzensprung?
Schon jetzt entwickeln politische Videos auf TikTok für manche Jugendliche eine Sogwirkung, wo es von Hütchen auf Stöckchen immer weiter nach rechts gehen kann. Am Anfang könnte ein kritisches Video über die letzten „Star Wars“-Filme stehen, die dem Videomacher viel zu „woke“ waren und eine „Agenda“ durchdrücken wollten.
„Stimmt“, denkt sich der Jugendliche und gibt ein Like. Woraufhin dann das nächste Video folgt, dass sich gegen Female Empowerment im Allgemeinen richtet.
Das könnte dann bereits von Andrew Tate stammen, der auf TikTok ein Star der „Gegenbewegung“ ist und sich klar gegen die „Wokisten“ positioniert oder Vergewaltigung verharmlost. Oder es folgt ein Video von der AfD, deren Kandidat für die Europawahl Maximilian Krah zumindest bis vor Kurzem noch große Erfolge auf der Plattform feiern konnte.
User können nicht „nicht“ mit TikTok kommunizieren
Und auch, wenn der Weg dorthin natürlich hier stark vereinfacht skizziert ist: Das ist dann die berühmte „Bubble“, die Echokammer, in der Meinungen immer weiter verstärkt werden, weil der Algorithmus eben so tickt. Dennoch muss es nicht immer so geschehen, sagt der Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker von der Uni Dresden im SWR Kultur Forum:
„Jede Art von Nutzung, auch eine Nicht-Nutzung, ist für TikTok eine Art von Information, die verarbeitet werden kann, um dann im Anschluss personalisiertere Inhalte auszuspielen. Wenn wir Politikinhalte konsumieren, aber nicht interagieren, dann werden diese Sachen wieder von unserer ,For You'-Page verschwinden.“
Forum Politik bei TikTok – Was macht das Netz mit der Freiheit?
Norbert Lang diskutiert mit
Dr. Philipp Lorenz-Spreen, Netzwerkwissenschaftler, Berlin
Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker, Sprachwissenschaftler, Dresden
Prof. Dr. Judith Möller, Kommunikationswissenschaftlerin, Hamburg
Reflexartig verbieten - Montana, Indien und Nepal machten es vor
Angesichts der Unübersichtlichkeit der Lage – TikTok und sein Wirkungsgrad sind für Außenstehende noch immer eine Blackbox. Aufgrund der rasanten Entwicklung der einstigen Musik- und Tanzplattform zu einer Entertainment-Plattform bis hin zu einer hochpolitisierten Meinungs- und Reactionplattform, ist der Verbotsreflex, mit dem viele Regierungen und Institutionen derzeit reagieren, natürlich nachvollziehbar.
Der amerikanische Militäranalytiker Ryan McBeth geht sogar so weit, TikTok als Cyberwaffe zu bezeichnen, mit der sich zielgenaue Protestaktionen auslösen lassen können. Allerdings gibt es auch Stimmen, die sich dagegen aussprechen.
Ein Verbot wäre Symptombehandlung
Eine von ihnen ist die Autorin Marina Weisband. Sie sieht in einem TikTok-Verbot einen Eingriff in die Welt der Jugendlichen, wie sie im Podcast „Was geht, was bleibt?“ ausführt: „Es ist doch nicht damit getan, Jugendlichen den vielleicht einzigen Austauschraum zu nehmen, den sie haben. Wo sie ihre Gefühle ausdrücken, wo sie ihre Anliegen ausdrücken können - und das ersatzlos zu streichen und damit zu sagen: ,Jetzt ist das Problem wieder unsichtbar!'“
„Jugendliche kämpfen seit Corona mit Einsamkeit"
Um eben diese Problematik geht es auch in Weisbands neuem Buch „Die neue Schule der Demokratie“ – nämlich das Fehlen von geeigneten und auch geschützten Orten, um Demokratie zu lernen:
Und Akteure wie Maximilian Krah sprächen eine Einsamkeit an, die real existent sei unter Jugendlichen, sagt Weisband. „Diese emotionale Ansprache funktioniert, weil sie ein echtes Problem trifft. Aber Jugendliche sind nicht einsam wegen „Woke“ oder „den Grünen“, sondern Jugendliche sind einsam, weil zum Beispiel dritte Orte in ihren Kommunen wegfallen. Orte, wo man nicht bezahlen muss, um dort rumzuhängen, die werden geschlossen.“
Die Generation TikTok ist vor allem eins: Müde
So gesehen ist der Rechtsdrall der Jugend auf TikTok nur ein Symptom für ein größeres Problem, das laut Marina Weisband noch nicht adressiert wurde. Denn heutige 14-Jährige hätten sich in ihrer Lebenszeit schon mit multiplen komplexen Krisen auseinandersetzen müssen und seien einfach müde.
„Man braucht eine gewisse Ruhe, um über die Zukunft nachzudenken, sei es die Zukunft des Planeten oder der von marginalisierten Menschen, oder auch das eigene Überleben. Und diese Ruhe ist grundsätzlich nicht da.“