Erschossen bei Reportage im Westjordanland

Tod einer Ikone – Vor einem Jahr starb die amerikanisch-palästinensische Journalistin Shireen Abu Akleh

Stand
Autor/in
Nadja Odeh
Onlinefassung
Franziska Kiedaisch

Der Tod der amerikanisch-palästinensischen Journalistin Shireen Abu Akleh erregte weltweite Aufmerksamkeit. Die Korrespondentin war während der Berichterstattung im Mai 2022 tödlich von einer Kugel des israelischen Militärs getroffen worden. Der Fall wirft bis heute Fragen auf. Was erzählen Freundinnen, Familienangehörige, Menschenrechtsaktivisten und Kolleg*innen nach ihrem Tod über Shireen Abu Akleh?

„Bint Filastin“ – Tochter Palästinas

Es ist der 11. Mai 2022, morgens gegen 6.30 Uhr: Am Eingang des Flüchtlingslagers in der palästinensischen Stadt Jenin im Westjordanland fallen Schüsse. Die Journalistin Shireen Abu Akleh wird tödlich von einer Kugel des israelischen Militärs IDF getroffen.

Abu Akleh war mit weiteren Pressevertreter*innen vor Ort, um über eine Razzia des israelischen Militärs zu berichten. Nach einer Reihe tödlicher Anschläge in Israel werden in den besetzten Gebieten seit Ende März 2022 verstärkt Festnahmen im Rahmen der Operation „Break the Wave“ durchgeführt. So auch am Morgen des 11. Mai.

Die getötete Journalistin war in der Region keine Unbekannte: 25 Jahre lang hatte sie für den Nachrichtensender Al Jazeera aus den besetzten Gebieten berichtet, „Bint Filastin“ wurde sie genannt – Tochter Palästinas.

In Gedenken an die Journalistin Shireen Abu Akleh steht ein Foto von ihr vor einer Kerze
Am Morgen des 11. Mai 2022 wird die Journalistin Shireen Abu Akleh in Jenin im Westjordanland bei der Berichterstattung erschossen. Nachdem die israelische Regierung zunächst abstreitet, etwas mit ihrem Tod zu tun zu haben, wird später klar, dass der tödliche Schuss vom israelischen Militär ausging. Bild in Detailansicht öffnen
Streetart-Künstlerin erinnert in Gaza Stadt an die getötete palästinesische Journalistin Shireen Abu Akleh
25 Jahre lang berichtete sie als Reporterin aus der Konfliktegion, sie galt als die Stimme Palästinas. Streetart-Künstler*innen setzen der ermordeten Journalistin nach ihrem gewaltsamen Tod ein Denkmal in Gaza Stadt. Bild in Detailansicht öffnen
Nach dem Tod der palästinesischen Journalistin Shireen Abu Akleh trägt ein Mädchen eine kugelsichere Weste und Helm, in der Hand trägt sie ein Bild der getöteten Journalistin
Ihr Tod löst weltweit Proteste aus. Wieso konnte eine Pressevertreterin, mit Splitterschutzweste und Helm ausgestattet und eindeutig als Journalistin erkennbar, von israelischen Streitkräften während der Berichterstattung erschossen werden? Bild in Detailansicht öffnen
Plakat: Nach dem Tod der palästinesischen Journalistin Shireen Abu Akleh
Shireen Abu Akleh wird zum Sinnbild für Pressefreiheit und die Gefahren, die im Nahen Osten mit der Berichterstattung einhergehen können. Bild in Detailansicht öffnen
Demonstration in Washington nach dem Tod der palästinesischen Journalistin Shireen Abu Akleh
Weltweit fordern Menschen die lückenlose Aufklärung der Umstände, die zum Tod Shireen Abu Aklehs führten (hier eine Aufnahme aus Washington). Der israelischen Regierung wird vorgeworfen, eine unabhängige Untersuchung des Falls zu blockieren. Bild in Detailansicht öffnen
Nach dem Tod der palästinesischen Journalistin Shireen Abu Akleh protestieren auch in Deutschland Palästinenser für Aufklärung
Auch in Deutschland gehen Menschen auf die Straße: Die Ermordung der 51-jährigen Journalistin wird auch genutzt, um auf die Situation von Palästinenserinnen und Palästinensern im Nahen Osten aufmerksam zu machen und Kritik am Staat Israel zu üben. Bild in Detailansicht öffnen
Nach dem Tod der palästinesischen Journalistin Shireen Abu Akleh protestieren Journalist*innen in Palästina für Auklärung
Auch Journalist*innen in Gaza Stadt fordern Auklärung – insbesondere von den USA, denn Shireen Abu Akleh war auch amerikanische Staatsbürgerin. Ende 2022 wird bekannt, dass das FBI Ermittlungen in dem Fall aufnehmen wird. Bild in Detailansicht öffnen
Tausende geben dem Sarg der palästinesischen Journalistin Shireen Abu Akleh die letzte Ehre
Tausende Palästinenser*innen geben dem Sarg der Journalistin am 13. Mai 2022 in Ostjerusalem die letzte Ehre. Doch es kommt zu Zusammenstößen zwischen der israelischen Polizei und den Trauernden. Fast fällt dabei der Sarg zu Boden. Der Vorfall ruft weltweit Entsetzen und Empörung hervor. Bild in Detailansicht öffnen
Eingang katholischer Friedhof in Jerusalem, wo Shireen begraben liegt
Am Eingang des katholischen Friedhofs in Jerusalem stehen Bilder der verstorbenen Journalistin. Als Angehörige der arabisch-christlichen Minderheit ist Shireen Abu Akleh hier begraben. Bild in Detailansicht öffnen
Gedenktafel für Shireen Abu Akleh
Durch ihre Berichterstattung aus den besetzten Gebieten wird Shireen Abu Akleh zu einer palästinensischen Ikone. Bild in Detailansicht öffnen

Ein Kollege von Shireen Abu Akleh dokumentiert alles mit der Kamera

Nicht nur Shireen Abu Akleh gerät an diesem Morgen unter Beschuss. Auch Majdi Bannourah ist als Kameramann Teil des Teams – und filmt das Geschehen vor Ort.

„Ich wusste, wenn ich nur einen Schritt weitergehe, sterbe ich. Wenn ich auf die Straße gehe, sterbe ich. Ich blieb also am Boden geduckt und habe gefilmt. Um zu dokumentieren. Also in dem Moment wusste ich eigentlich gar nicht, was ich tat. Es war der Impuls meines Berufs. Ich habe alles gefilmt, bis zum Ende“, sagt er.

Kameramann Majdi Bannourah
„Es war der Impuls meines Berufs. Ich habe alles gefilmt, bis zum Ende“: Majdi Bannourah dokumentierte mit seiner Kamera die Geschehnisse vor dem Flüchtlingslager.

Bannourahs Filmaufnahmen zeigen, wie sich Shireen Abu Akleh an eine Mauer drückt. Man hört ihre Kollegin Shatha Hanaysha nach Hilfe rufen, die sich hinter einem Baum versteckt hat. Immer wieder werden Salven in Richtung Baum abgefeuert, schließlich liegt Shireen Abu Akleh reglos am Boden – in einer blauen Schutzweste mit der Aufschrift „Presse“.

„Erst dachte ich, sie sei gestolpert. Aber als sie sich nicht mehr bewegte, begriff ich, dass sie getroffen war. Ich schrie. (...) Immer, wenn ich versucht habe, meine Hand nach Shireen auszustrecken, wurde geschossen.“

Streetart erinnert in Gaza Stadt an die getötete palästinesische Journalistin Shireen Abu Akleh
Streetart-Künstler*innen erinnern an die bekannte und beliebte Journalistin Shireen Abu Akleh und zeigen auf einem Mural in Gaza Stadt den Hergang der Geschehnisse vom 11. Mai 2022 in Jenin.

Tragischer Unfall oder gezielter Angriff auf die Pressefreiheit?

Die Schüsse kommen alle aus einer Richtung – vom oberen Ende der Straße, wo in etwa 200 Metern Entfernung ein israelischer Militärkonvoi steht.

„Ich habe alles aufgezeichnet: Wie sie unter dem Baum liegt, das Gesicht auf der Erde. Und wie der Beschuss von Seiten des israelischen Militärs kam. Da war sonst nichts, es war total ruhig. Kein einziger bewaffneter Palästinenser. Wo wir uns befanden, war außerdem freies Feld. Es hätte sich niemand irgendwo verstecken können. Die Schüsse kamen ausnahmslos von oben, von der Straße, wo die Militärfahrzeuge standen“, sagt der Kameramann Majdi Bannourah.

Bilder zum Feature zu Shireen Abu Akleh
Dort, wo Shireen Abu Akleh am 11. Mai 2022 Schutz suchte, legen Menschen später Blumen und Bilder ab.

Doch die Geschichte, die das israelische Militär noch am selben Tag veröffentlicht, ist eine andere: Während einer Antiterrormaßnahme mit dem Ziel, Hamas-Terroristen festzunehmen, hätten sich die Truppen mit „Dutzenden bewaffneter Militanter konfrontiert“ gesehen, „die Sprengstoff warfen und mit Gewehren schossen“, woraufhin die IDF-Truppen mit „scharfem Feuer“ reagiert hätten. Dabei sei tragischerweise auch Shireen Abu Akleh getroffen worden.

Der Erklärung der IDF ist ein Video beigefügt, das veranschaulichen soll, unter welch schwerem Beschuss die israelischen Streitkräfte an jenem Tag in Jenin standen. Die Aufnahme wird jedoch umgehend von der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem als irreführend entlarvt. GPS-Koordinaten sowie eine Luftbildaufnahme zeigen, dass die veröffentlichte Schießerei an einem anderen Ort stattfand und folglich mit Shireen Abu Aklehs Tod nichts zu tun hatte.

Erschütternde Szenen bei der Trauerfeier in Ostjerusalem

Zusammenstöße zwischen israelischer Polizei und Trauernden bei der Beerdigung der getöteten palästinesischen Journalistin Shireen Abu Akleh
Tausende nehmen am 13. Mai 2022 an dem Trauerzug für die getötete Journalistin in Ostjerusalem teil, doch es kommt zu Zusammenstößen zwischen den Teilnehmenden und der israelischen Polizei.

Zwei Tage nach ihrem Tod wird Shireen Abu Akleh in Ostjerusalem beigesetzt. An einem Trauerzug nehmen Tausende teil, viele Palästinenserinnen und Palästinenser wollen von der beliebten Journalistin Abschied nehmen. Doch es kommt zu Zusammenstößen zwischen den Teilnehmenden und der israelischen Polizei.

Die Bilder von auf die Sargträger einknüppelnden Polizisten gehen um die Welt und lösen international Entsetzen und Empörung aus. Auch das Auswärtige Amt meldet sich auf Twitter zu Wort:

Die israelische Polizei erklärt tags darauf per Twitter, man habe eine friedliche und würdige Beerdigung ermöglichen wollen. Die Beerdigungsvorbereitungen seien mit Shireen Abu Aklehs Familie abgestimmt gewesen, doch leider hätten Hunderte von Randalierern versucht, die Zeremonie zu sabotieren.

Anton Abu Akleh, der Bruder von Shireen Abu Akleh
„Für mich war es wie die zweite Ermordung von Shireen“, sagt Anton Abu Akleh über die Ausschreitungen während der Trauerfeier für seine Schwester.

Anton Abu Akleh, der Bruder der verstorbenen Journalistin, widerspricht: „Kaum kamen wir mit dem Sarg aus dem Kühlhaus, griffen sie uns an, mit Schlagstöcken, Tränengas und Blendgranaten. Einfach so. Es gab keinen Grund. Wir haben nichts getan, was so einen barbarischen Angriff gerechtfertigt hätte. Gut ist, dass alles gefilmt und im Fernsehen gezeigt wurde. (...) Es gibt keine Erklärung für so ein Verhalten. Das hat sehr weh getan. Für mich war es wie die zweite Ermordung von Shireen.“

Als Angehörige der arabisch-christlichen Minderheit wird Shireen Abu Akleh auf dem katholischen Friedhof auf dem Zionsberg in Jerusalem beigesetzt.

Das Grab von Shireen Abu Akleh
Das Gedenken an Shireen Abu Akleh wird auf dem katholischen Friedhof in Jerusalem aufrecht erhalten. Jeden Samstag bringt die Familie frische Blumen. Aber auch Fremde schmücken das Grab mit Rosenkränzen, Gebetsketten oder kleinen Heiligenbildern.

Offen bleibt, ob die Schüsse gezielt abgegeben wurden

Zwei Monate nach Shireen Abu Aklehs Tod liegen eingehende Untersuchungen von CNN, der New York Times, dem internationalen Recherchekollektiv Bellingcat, Associated Press, der Washington Post und dem UN-Hochkommissar für Menschenrechte vor.

Alle kommen zum gleichen Ergebnis: Die Schüsse wurden vonseiten des israelischen Militärs abgefeuert. Offen bleibt, ob die Schüsse gezielt waren.

Shireen Abu Akleh ist kein Einzelfall

Dass eine Pressevertreterin während der Ausübung ihrer Arbeit von israelischen Streitkräften getötet wird, sei kein Einzelfall, sagt Hagai El-Ad, seit 2014 neun Jahre lang Direktor von B’Tselem.

„Shireen Abu Akleh ist bei weitem nicht der erste Fall einer Journalistin, die in Ausübung ihres Berufs von israelischen Sicherheitskräften erschossen wurde.“

Das palästinensische Center for Development and Media Freedom, kurz MADA, hat von 2000 bis 2022 die Namen von insgesamt 48 palästinensischen Journalistinnen und Journalisten aufgelistet, die durch israelische Militärs getötet wurden.

Das israelische Militär spricht von einem Versehen

Am 5. September 2022 veröffentlicht das israelische Militär eine abschließende Erklärung zum Tod der Journalistin. Es ist die siebte Version: Demnach scheine es „nicht möglich, die Quelle der Schüsse, die Frau Abu Akleh trafen und töteten, eindeutig zu bestimmen. Es besteht jedoch eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Frau Abu Akleh versehentlich von Schüssen der IDF getroffen wurde, während eines Schusswechsels abgegeben auf Verdächtige, die als bewaffnete Palästinenser identifiziert wurden, die wahllos auf IDF-Soldaten feuerten“, heißt es darin.

Und weiter: „Darüber hinaus stellte der Generalstabschef in Übereinstimmung mit den Untersuchungsergebnissen fest, dass Frau Shireen Abu Akleh zu keinem Zeitpunkt identifiziert wurde und dass zu keinem Zeitpunkt absichtliche Schüsse von IDF-Soldaten abgegeben wurden, die darauf abzielten, die Journalistin zu verletzen.“

Der Kampf um die Wahrheit geht weiter

„Wir widersprechen diesen Schlussfolgerungen voll und ganz. Sie sind irreführend und falsch. Zu diesem Zeitpunkt gab es kein Feuergefecht“, sagt der Israeli Eyal Weizman. Er ist Professor an der Goldsmith University in London, wo er Forensic Architecture leitet und seit kurzem auch das Berliner Schwester-Projekt Forensis.

Die international renommierte NGO hat sich darauf spezialisiert, mithilfe sogenannter Open-Source-Untersuchungen präzise architektonische 3D-Modelle zu Szenen extremer Menschenrechtsverletzungen zu erstellen. Auf Bitten der Familie hat sie das auch zur Tötung von Shireen Abu Akleh getan und die Ergebnisse zwei Wochen nach dem Abschlussbericht des israelischen Militärs in einer knapp 11-minütigen Video-Präsentation veröffentlicht.

Die juristische Aufarbeitung ist noch nicht abgeschlossen

Mitte November teilt das US-Justizministerium dem israelischen Justizministerium mit, dass das FBI eingeschaltet sei. Die US-amerikanische Strafverfolgungsbehörde hat eine Untersuchung des Todes von Shireen Abu Akleh eingeleitet, die neben ihrer palästinensischen auch die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß.

Shireen Abu Aklehs Familie und der Sender Al Jazeera haben inzwischen Klage vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eingereicht.

Nichte Lareen mit dem Hund von Shireen Abu Akleh, Filfil
Shireen Abu Aklehs Nichte Lareen studiert auf Zypern Fernseh - und Radiojournalismus und möchte später einmal in die Fußstapfen ihrer Tante treten. Auf dem Arm hält sie Shireens Hund Filfil.

Angehörige, Freundinnen und Arbeitskollegen, aber auch viele ihr nicht persönlich bekannte Palästinenserinnen und Palästinenser trauern nach wie vor um eine bewundernswerte und mutige Frau, die trotz Routine und Erfolg ihrem journalistischen Anspruch treu geblieben ist.

Obwohl es unbequem und gefährlich ist, wollte sie am Ort des Geschehens sein, um alles mit eigenen Augen zu sehen – und bezahlte dafür am Ende mit dem Leben.

Nadja Odeh, Autorin des Features „Tod einer Ikone: Die Journalistin Shireen Abu Akleh“, im Gespräch bei SWR2:

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