Katharina Mertes steht im Kuhstall des Bauern Kemen in Schleid. Sie hat eine große weiße Brille auf dem Kopf, eine Virtual-Realty-Brille. Damit soll die 19-Jährige ihre Umgebung wie eine Kuh sehen können. Eine völlig neue Perspektive für Mertes, die auf dem Hof ihre Ausbildung zur Landwirtin macht.

"Man fühlt sich ein bisschen betrunken“, beschreibt Mertes ihre Eindrücke nach dem Rundgang durch den Stall und den Bauernhof. "Man sieht hauptsächlich nur schwarz-weiß. Farben sehen die Kühe kaum", sagt die Auszubildende. Auch Kontraste sehen Kühe viel stärker, was Mertes als unangenehm empfindet. "Die Kühe müssen sich viel länger an Helligkeit gewöhnen als wir Menschen", so die Erkenntnis der jungen Frau.
Bedürfnisse der Tiere verstehen
Insgesamt sind 30 Landwirte und Auszubildende auf den Bauernhof gekommen, um zu erleben, wie Kühe ihre Umwelt sehen. Organisiert hat das der DLR Eifel zusammen mit dem Netzwerk Fokus Tierwohl.
Landwirt Martin Kemen, der seinen Hof dafür zu Verfügung gestellt hat, ist gespannt auf das Ergebnis. Er hat nach eigenen Angaben schon vor Jahren viel Geld in die Hand genommen, um seinen Hof artgerechter zu machen. Und er fragt sich, ob seine Tiere das ähnlich sehen.
Warum verhalten sich die Tiere so?
Es gibt ein paar Stellen im Stall, da reagieren die Tiere anders als Landwirt Kemen und seine Auszubildende Katharina Mertes das erwarten. Eine hat die angehende Landwirtin immer wieder zum Nachdenken gebracht hat. "Fast immer, wenn die Kühe aus dem Melkstand durch eine bestimmte Tür hier nach draußen in den anderen Stall gehen sollen, bleiben sie stehen. Ich habe mich oft gefragt, warum sie das tun", erklärt Mertes.
Mit VR-Brille Probleme erkennen
Mit der VR-Brille bekommt sie Antworten. Dabei läuft sie im Stall zweimal gegen eine Kuh, weil sie den Abstand falsch einschätzt. Dann geht sie durch den Melkstand auf die besagte Tür zu. "Das ist wirklich unangenehm." Auch sie bleibt plötzlich stehen. "Es ist sehr hell und die Gewöhnung daran dauert. Es tut fast weh."

Auch Amelie Hansen ist an diesem Tag auf dem Hof in Schleid dabei. Die Tierärztin des Betriebs hat durch die VR-Brille eine völlig neue Wahrnehmung aus Sicht der Tiere. Deutlich wird ihr das bei dem Gang durch den Kuhstall. "Ich hatte mir das Sichtfeld der Kühe größer vorgestellt", erzählt die Tierärztin. "Es ist viel kleiner und eingeschränkter."
Ich war überzeugt, dass ich dort stecken bleibe, weil es so eng aussah.
Besonders auffällig wird dies im Gang vom Stall in den Melkstand. Die Kühe sollen durch einen Gittergang laufen. "Ich war überzeugt, dass ich dort stecken bleibe, weil es für mich so eng aussah“, sagt sie.

VR Brille erklärt das Verhalten der Tiere
"Die Kühe können Entfernungen nicht gut einschätzen", erklärt Tierärztin Amelie Hansen. Die Erkenntnisse helfen ihr künftig bei der Arbeit mit den Tieren. Schon jetzt leitet sie oft die Kühe mit den Händen und zeigt ihnen damit, wohin sie gehen sollen. "Die Brille hat mir vor Augen geführt, wie wichtig das ist."
Auch die künftige Landwirtin Katharina Mertes hat einen andere Sicht auf die Tiere bekommen. Nach ihrer Erfahrung mit der VR-Brille ist ihr klar geworden, wie sensibel Kühe auf Enge und Hell-Dunkel-Unterschiede reagieren. "Ich werde in Zukunft noch vorsichtiger sein und den Tieren mehr Zeit lassen. Besonders wenn sie stocken oder stehen bleiben", erklärt Katharina.
Mehr artgerechte Tierhaltung im Betrieb
Auch Landwirt Martin Kemen aus Schleid hat einiges über seine Tiere gelernt. Nach dem Gang mit der VR-Brille durch seinen Stall plant er einige Veränderungen. Eine davon ist die Tür vom Melkstand nach draußen, wo die Tiere so oft stocken oder stehen bleiben, weil es ihnen zu hell ist. Hier will der Landwirt schnell eine Lösung finden. Sein Ziel: Mehr Tierwohl im Stall. Denn wenn es seinen Tieren gut geht, haben alle etwas davon.