Dr. Markus Mai, Vorstand der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz, drückt es drastisch aus:"Uns fehlen vorne und hinten Leute. Der Pflegebedarf in der Gesellschaft wird immer größer. Auf der anderen Seite gehen in Zukunft immer mehr professionelle Pflegefachkräfte die nächsten Jahre in Rente. Wir brauchen in den nächsten Jahren mehrere hunderttausende Pflegefachkräfte in Deutschland. Das ist kein Pflegenotstand, sondern eine Pflegekatastrophe."
Hunderttausende Pflegefachkräfte werden voraussichtlich fehlen
Das Statistische Bundesamt errechnete im Januar dieses Jahres, dass infolge der Alterung der Gesellschaft in Deutschland bis zum Jahr 2049 voraussichtlich zwischen 280.000 und 690.000 Pflegekräfte fehlen werden. Laut der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz müssten im Jahr 2035 im Land bereits zwischen 11.500 und 17.200 Stellen aufgrund des Renteneintritts der Pflegefachkräfte neu besetzt werden.
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'Wir steuern auf eine Pflegekatastrophe zu"
"Wir steuern wirklich auf eine Katastrophe zu", bestätigt auch die Pflegewissenschaftlerin Dr. Andrea Kuhn von der Hochschule Ludwigshafen. Schon jetzt würden viele Altenheime einen Aufnahmestop verhängen oder gar schließen und die Angehörigen bitten, die Senioren selbst zu versorgen. Das Caritas Altenzentrum in Limburgerhof bildet also keine Ausnahme im Land.
Leasing-Agenturen vermitteln teures Fachpersonal
Im Caritas Altenzentrum in Limburgerhof haben die hohen Personalkosten u.a. zur Schließung geführt. Laut einer Pressemitteilung hat man nur noch mit Leasingkräften arbeiten können, die das Doppelte gekostet haben sollen, wie die angestellten Fachkräfte. Man habe schlichtweg nicht genügend Leute gefunden, die man habe fest anstellen können, so die Heimleitung. Dr. Markus Mai kann es Pflegefachkräften nicht verdenken, dass sie zu Leasing-Firmen wechseln, um mehr zu verdienen. "Was ich aber am schlimmsten finde, die Agenturen, die die Leute vermitteln, die saugen ja eigentlich richtig viel Geld aus unserem Sozialsystem ab. Und das ist aus meiner Sicht nicht tolerabel."
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Unbeliebter Job: Altenpflegerin
Dr. Markus Mai ruft den Trägern zu, spart euch das Geld für Leasingkräfte und steckt das Geld in die eigenen Leute, damit die zufriedener sind bei der Arbeit. Aber woher sollen die Fachkräfte - noch dazu in dieser großen Anzahl - denn herkommen? Der Beruf der Pflegefachkraft Richtung Altenpflege ist alles, nur nicht beliebt. "Momentan denkt jeder, um Gottes Willen, bloß nicht in die Pflege. Alle sagen, toll, dass du das machst! Der Hintergedanke dabei ist aber doch 'gut, dass die das macht, dann brauche ich es nicht zu machen!'", meint Pflegewissenschaftlerin Dr. Andrea Kuhn.
Einzige Lösung: ein kompletter Systemwechsel
Die Lösung fürs Dilemma ist komplex und erfordert einen kompletten Systemwechsel, so die Experten. Ein Systemwechsel, der ein anderes Berufsbild umfasst, eine andere Finanzierung, ein anderes Verständnis von Pflege und somit aber auch ein deutlich menschlicheres Umgehen mit alten Menschen, die gepflegt werden müssen.
Schon seit Jahren fordern Kammern, Wissenschaftler und Fachkräfte etwa, dass man vom minütigen Abrechnen von Kämmen, Duschen, Essen hinstellen und aufs Klo gehen, weg muss. Pflege ist eine allumfassende Aufgabe, die medizinisches, psychologisches und soziologisches Wissen erfordert, eine hoch komplexe Aufgabe, die man schlecht im Minutentakt absolvieren und abrechnen kann, betont Dr. Andrea Kuhn von der Hochschule Ludwigshafen.
Lernen von anderen Ländern
In den skandinavischen Ländern und in den Niederlanden herrscht jetzt schon ein anderes System: Senioren werden hauptsächlich Zuhause gepflegt. "Beispielsweise in Dänemark hat man 1989 bereits den Bau neuer Altersheime verboten. Und in Deutschland redet man sich ständig damit raus, dass wir hier eine andere Bevölkerungsstruktur und ein anderes Gesundheitssystem haben", betont die Pflegewissenschaftlerin. Der Systemwechsel sei überfällig. Man habe ja jetzt 50 Jahre lang gesehen, dass das bestehende nicht funktioniere.
Am meisten leiden die alten Menschen unter der Situation
Dr. Markus Mai bringt es auf den Punkt:"Die Pflege hat in Deutschland nie den Stellenwert gehabt, die sie braucht. Jeder findet es gut, keiner will es machen und alle wollen möglichst wenig bis nichts dafür bezahlen." Und das Schlimmste dabei sei, dass die Versorgung der alten Menschen unter all dem leide. Und das sei der springende Punkt: Wenn man die Versorgung der Senioren und Seniorinnen neu denke und sich eben nicht nur darauf konzentriere, dass alle satt und sauber bleiben bis zur Bestattung, dann erhalte man automatisch mehr und auch motivierte Mitarbeiter, die den Job gerne machen.
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Hoffnung durch neues Pflegekompetenzgesetz
Hoffnung geben gleich mehrere Punkte: Zum einen ist ein Pflegekompetenzgesetz auf dem Weg, das noch dieses Jahr in den Bundestag eingebracht werden soll. Dies stattet Pflegefachkräfte mit deutlich mehr Kompetenzen und Verantwortungen aus, die bislang Ärzten vorbehalten waren. Das steigere die Attraktivität des Jobs, so Dr. Andrea Kuhn.
Neue Wohnformen wie Alters-WGs im Kommen
Und: Es sieht die finanzielle und strukturelle Förderung neuer Wohnformen für ältere Menschen vor, wie etwa Alters-WGs. In diesen könnten sich Senioren zum Beispiel dann zusammen eine gute Versorgung durch eine Fachkraft teilen. Kern der Alters-WGs: Die Selbständigkeit der älteren Menschen so lange wie möglich zu erhalten und sie bei allen Arbeiten, wie Kochen, Waschen, Bügeln etc. einbinden. Eine kostengünstigere und definitiv menschlichere Variante der teuren "Satt-und-Sauber-Variante", so die Pflegeprofis.
Leben auf dem Bauernhof
Auch Pflegekonzepte, wie Pflegebauernhöfe, könnten mit dem neuen Pflegekompetenzgesetz weg vom Modellcharakter hin zur normalen "Altersversorgung". Modellprojekte wie der Pflegebauernhof Marienrachdorf im Westerwald etwa, in dem 22 Bewohnerinnen und Bewohner zwar von Pflegefachkräften versorgt werden, aber bei der alltäglichen Arbeit mit Tieren und auf dem Acker mithelfen, so gut sie eben können. Das hält die alten Menschen fit - körperlich und geistig und macht sie glücklich bis ins hohe Alter.
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Rehabilitierender Pflege gehört die Zukunft
"Rehabilitierende Pflege" nennt man solche Konzepte, die vorsehen, dass Senioren und Seniorinnen wieder mobil gemacht werden, damit sie so lange selbstständig bleiben, wie es nur geht. Studien zeigen, dass die rehabilitierende Pflege sogar bettlägrige Patienten wieder mobil machen kann. Reha machen statt für immer ans Bett gefesselt sein, das findet auch die Landespflegekammer Rheinland-Pfalz gut. "Klar steckt man da erstmal richtig viel Geld rein in so eine Reha, aber am Ende ist es billiger, wenn die Leute nach einiger Zeit wieder heim können, statt sie bis zum Tod im Heim zu behalten", sagt Dr. Markus Mai.
Fitte Senioren - glückliche, motivierte Fachkräfte
Und für die Pflegefachkräfte ist es auch viel motivierender zu sehen, dass ihre Arbeit Patienten wieder fit macht und sie nicht nur wund gelegene Stellen versorgen müssen, so der Experte. "Wir gehen doch auch wieder aus dem Krankenhaus raus und heim, heutzutage schneller denn je. Ich weiß nicht, warum wir es uns rot in den Kalender eintragen müssen, wenn Senioren und Seniorinnen aus Pflegeheimen wieder rauskommen und heim gehen. Diese Entwicklung macht mir echt Sorgen", erklärt Pflegewissenschaftlerin Dr. Andrea Kuhn.
Prävention spielt in Deutschland eine viel zu geringe Rolle
"Prävention spielt bei uns in Deutschland eine viel zu geringe Rolle", weiß auch Dr. Markus Mai, Vorsitzender der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz. Klar, habe man Ansätze wie die Gemeindeschwester Plus in Rheinland-Pfalz. Das sind Fachkräfte, die zu den Seniorinnen und Senioren nach Hause kommen, ermitteln, was die älteren Menschen brauchen, damit sie möglichst lange und selbständig in der Wohnung bleiben können - und solche Hilfen dann auch vermitteln. Aber solche präventive Ansätze gebe es noch viel zu wenige und sie müssten deutlich mehr ausgebaut werden.
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Forderung der Experten: Pflegefachkräfte in die Ministerien
Unsere Gesellschaft wird alt und älter. Daher müssen neue und ganz andere Pflegekonzepte her - für einen attraktiven Pflegeberuf und ein menschliches Miteinander bis ins hohe Alter. Ideen gibt es viele und gute. Jetzt wird es höchste Zeit, sie gesellschaftlich und politisch durchzusetzen, so die Experten. Die Forderung der Wissenschaft: Lasst Pflegefachkräfte als Profi-Berater in die Ministerien bis hin zum Kanzleramt. Denn sie würden definitiv keine minütige Abrechnung für Waschen, Kämmen und aufs Klo gehen, erfinden. Denn sie wissen als Profis, wie es richtig geht.