Wir haben mit dem Sozialwissenschaftler und Pflegeexperten Prof. Stefan Sell von der Hochschule Koblenz über das niederländische Zeitmodell und über die Zukunft mit dem Pflegenotstand gesprochen. Für die Babyboomer empfiehlt er, sich zu vernetzen und Alten-WGs zu gründen.
Sell: Deutsches Pflegesystem ist unterfinanziert
SWR1: Liegt es an der Summe vieler kleiner Probleme, oder gibt es aus Ihrer Sicht eine Sache, die über allem steht und unser Pflegesystem herunterzieht?
Stefan Sell: Es ist das gesamte System der Altenpflege, sowohl in den Heimen, wie auch bei den vielen Pflegedienste und vor allem die häusliche Pflege. Etwa 80 Prozent aller Leute werden in ihrem Zuhause von den Angehörigen gepflegt. Das System ist, auch im internationalen Vergleich, unterfinanziert.
Und dann haben wir noch ein Problem: Selbst wenn Geld da wäre, fehlen uns vorne und hinten die Leute. Wir haben einen Personalmangel, der sich in den vergangenen 20, 30 Jahren aufgebaut hat und sehen jetzt das Ergebnis eines langen Prozesses.
Lösungsansätze für die Pflege aus dem Ausland
SWR1: In den Niederlanden ist es üblich, dass das Bezahlsystem sich nicht mehr an der einzelnen, erbrachten Pflegeleistung orientiert, sondern an der Zeit, die für die Pflege aufgewandt wird. Wäre das eine Lösung bei uns?
Sell: Das ist eine ein ganz wichtiger Lösungsvorschlag, der auch schon modellhaft ausprobiert wird. Aber wir stehen uns dabei selber im Weg, weil wir in Deutschland eine Art "Minutenpflege" haben, bei dem die ambulanten Pflegekräfte jeden Handgriff dokumentieren und abrechnen.
Da sind die Niederländer viel, viel weiter. Die wissen: Im Durchschnitt werden die Pflegekräfte die vorhandene Zeit, die ihnen bezahlt wird, schon vernünftig auf die einzelnen Pflegefälle verteilen. Davon hätte man schon längst lernen können. Wir stehen vor einem nur historisch zu verstehenden, sehr bürokratischen System. Aber das kennen wir ja auch aus anderen Bereichen.
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Großer Mangel an Pflegekräften
SWR1: Wenn sich eine Pflegekraft beim Patienten mehr Zeit lassen kann, weil sie fair bezahlt wird, gibt es aber natürlich nicht weniger Arbeit zu erledigen und der Personalmangel bleibt ja auch bestehen.
Sell: Das ist ein ganz großes Problem, für das es leider keine wirklich optimistische Lösung gibt. Das kann man an einem scheinbaren Widerspruch deutlich machen. Wir haben in den vergangenen Monaten hier im Land intensiv über die Vier-Tage-Woche, also über Arbeitszeitverkürzung, gesprochen. Da wurde immer gesagt, dass wir ja jetzt schon einen Mangel an Pflegekräften haben.
Tatsächlich wäre es durchaus sinnvoll, in diesen Bereichen, in dem schwer belastete Arbeit geleistet wird, mit einer Arbeitszeitverkürzung die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Das ist ein scheinbarer Widerspruch, denn dann hätte man ja noch weniger Pflegekräfte.
Mit Blick auf die Zukunft, in der uns hunderttausende Pflegekräfte fehlen werden, wäre die Arbeitszeitverkürzung aber sinnvoll, um dann damit bessere und attraktivere Arbeitsbedingungen zu bieten, damit auch Nachwuchs kommt, damit Leute in diesen Bereich reingehen. Das ist also ein scheinbarer Widerspruch, der aber mit Blick auf die Zukunft wichtig wäre, um das Berufsfeld deutlich attraktiver zu machen.
Denn nicht nur das Geld ist in diesem Bereich wichtig. Die Zeit ist ganz elementar. Schon heute arbeiten die meisten Pflegekräfte in den Heimen, aber auch in den ambulanten Pflegediensten schon Teilzeit. Nicht weil sie nicht wirklich Vollzeit arbeiten wollten, sondern weil sie sagen, sie können diese Arbeit eigentlich nicht in Vollzeit machen.
Sell: Babyboomer sollten sich um Alten-WGs kümmern
SWR1: Könnte es der Pflege in Deutschland helfen, wenn sich Menschen früher Gedanken darüber machen, sich vorsorglich um die eigene Pflege zu kümmern?
Sell: Ja, natürlich, aber was heißt "kümmern"? Wenn sie Beiträge zur Pflegeversicherung bezahlen, dann ist das auch eine Vorsorge. Das Problem ist, dass in den nächsten 15 Jahren die ganzen Babyboomer den Arbeitsmarkt verlassen werden. Viele von denen werden in 20 oder 25 Jahren selber von Pflegebedürftigkeit betroffen sein. Und das werden wir mit professionellen Pflegekräften, so wie heute nicht mehr stemmen können.
Ich könnte jetzt etwas zynisch sein und sagen, die Babyboomer haben in den 1980er Jahren als junge Menschen ihre Erfahrungen mit Wohngemeinschaften gesammelt. Diese Generation sollte sich rechtzeitig darum kümmern, ein Netzwerk mit Menschen aufzubauen, mit denen sie gemeinsam alt werden und mit denen sie beispielsweise in Alten-Wohngemeinschaften leben, um dann ein halbwegs ordentliches Leben führen zu können.
Das Gespräch führte SWR1 Moderator Michael Lueg.