Als Russland die Ukraine im Februar 2022 angreift, ist Ihor Bystrevskyi 19 Jahre alt. Dem Musikstudenten aus dem nordukrainischen Tschernihiw ist klar: Er will sein Land verteidigen. Dass sein Leben in den folgenden zwei Jahren eine solche Wendung nimmt, er in Blaubeuren (Alb-Donau-Kreis) neue Freunde und eine zweite Heimat findet, kann zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen.
"Als der Krieg angefangen hat, war die ganze Stadt bereit, sich zu verteidigen", erzählt Ihor Bystrevskyi in einem Video-Interview mit dem SWR. Im Februar 2022 meldet er sich ein paar Tage vor Kriegsbeginn bei der Armee. Sein Traum ist seit seiner Kindheit, Offizier zu werden. Da er keine Armee-Ausbildung hat, weisen sie ihn im ersten Moment ab, erzählt er. Aber der junge Mann bleibt hartnäckig.
"Zu Beginn war ich für den Papierkram bei der Einheit zuständig. Machte einfach alles, was mein Chef mir auftrug", sagt Ihor mit einem Grinsen im Gesicht. Und dann braucht das Millitär in Tschernihiw Männer zur Verteidigung. "Mein Rucksack war daheim schon fertig gepackt." Mit 19 Jahren wird der Musikstudent zum Soldaten.
Vom Musikstudenten zum Soldaten
Anfang März bombardieren russische Streitkräfte Tschernihiw. Bei einem Artillerieangriff explodiert eine Granate auf einer Holzüberdachung, die den Graben bedeckt, in dem sich Ihors Einheit verschanzt hat. "Viele meiner Kollegen starben bei diesem Angriff."
Ihor wird verschüttet, sein linker Arm und sein linkes Bein werden schwer verletzt. So sehr, dass die Ärzte im Krankenhaus in Kiew das Bein nicht mehr retten können und es amputieren müssen. Seine Wunde verheilt schlecht.
Wie der verletzte Soldat nach Deutschland kam
"Die Frau meines Patenonkels ist Professorin an der Uni in Heidelberg", erklärt Ihor. Bei einem Benefizkonzert in Deutschland wird seine Geschichte erzählt: Über den Musiker, der im Krieg verwundet wurde. Und so führt eins zum anderen: Markus Winter, Chefarzt der Anästhesie und Intensivmedizin am Alb-Donau-Klinikum in Blaubeuren, bekommt einen Anruf von seiner Tochter: "Das war der typische Anruf: Papa, kannst du helfen?", erzählt Markus Winter.
20 Jahre war Winter selbst Soldat, Sanitätsoffizier der Bundeswehr und überwiegend am Bundeswehrkrankenhaus in Ulm tätig. Er lässt seine Kontakte spielen und schafft es mit seiner Tochter, Ihor nach Baden-Württemberg zu bringen. Putin habe die Zukunft des Jungen genommen, sagt Winter. "Ich hatte die Chance, etwas Gutes zu tun und ihm wieder eine Zukunft zu geben."
Bei Ulmer Spezialisten: Behandlung im BWK und Reha im RKU
Im Bundeswehrkrankenhaus (BWK) in Ulm bekommt Ihor die Behandlung, die er braucht. Der Stumpf hatte sich mit Keimen und Bakterien infiziert und muss erneut operiert werden. "Ich hatte in Deutschland und in der Ukraine mindestens 30 Operationen unter Narkose", sagt der junge Soldat. In Ulm bekommt er eine Prothese und wird im "Zentrum für Integrierte Rehabilitation" im Rehabilitationskrankenhaus Ulm (RKU) therapiert.
Er habe lange auf die Prothese gewartet. "Man hat mir gesagt, dass ich vielleicht nie wieder ohne Krücken laufen kann." Laufen zu lernen, war sein Ziel - und das hat er erreicht.
Zwei Jahre im Leben des jungen Soldaten:
"An Blaubeuren hat mir alles gefallen!", sagt Ihor lächelnd. Er findet in Baden-Württemberg neue Freunde und eine zweite Heimat, spiel in der Stadtkapelle Blaubeuren als E-Gitarrist und geht trotz Prothese und Krücken wandern. Sein Faible für die deutsche Sprache und das Land, das er durch die Musik schon immer hatte, verstärkt sich. "Ihor hat sich wahnsinnig schnell eingelebt", sagt Anästhesist Markus Winter, der mittlerweile mit Ihor befreundet ist.
Zurück in der Heimat, aber nicht an der Front
Im Januar 2024 muss Ihor Bystrevskyi wieder zurück, um sich bei der Einheit zu melden. Er ist immerhin noch Soldat der Ukraine. Nach knapp eineinhalb Jahren ist er also wieder zurück in seiner Heimatstadt Tschernihiw. "Das ist schön, ich habe meine Freunde und Familie lange nicht gesehen."
Er macht weiterhin Musik, geht viel spazieren mit seinem Hund, fängt wieder mit dem Kickboxen an. Seine neuster Erfolg nach mehreren Stationen in militärischen Kliniken: die Prüfungen für seinen Behindertenausweis. Innerhalb von drei Tagen habe er etwas geschafft, für das viele drei Monate brauchen, sagt der heute 21-Jährige stolz. Und wie das? "Ich habe einfach keine Angst vor Offizieren."
Außerdem steht seine Ausmusterung an, denn Ihor ist mit der Prothese nicht mehr wehrfähig. Damit ist der Traum des Soldaten, der für sein Land kämpft, beendet. Der junge Mann nimmt es scheinbar gelassen: "Vielleicht soll ich einfach kein Soldat sein." Was er jetzt in der Ukraine machen wird, weiß er noch nicht. "Ich glaube, ich nehme mir ein bisschen Zeit. In den letzten zwei Jahren habe ich schließlich genug erlebt", sagt er und lacht.