Mit Mitteln der Filmanalyse hat Thomas J.J. Scherer unzählige Spots untersucht, die er als "zeitgenössische Propaganda" bezeichnet. Dafür wurde er am Mittwoch in Tübingen mit dem Hans Bausch Mediapreis des Südwestrundfunks und der Universität Tübingen ausgezeichnet. Es geht in den Spots, die er für seine Studie untersucht hat, um Ernährung, um Achtsamkeit im Straßenverkehr, um Müllvermeidung, um Tierschutz oder um den Status homosexueller Lebensgemeinschaften.
Helden dank Nichtstun
Ein Beispiel, an dem sich viel über die Techniken solcher Werbeclips ablesen lässt, ist ein umstrittener Spot der Bundesregierung. Während der Corona-Pandemie warb sie für's Zuhause-Bleiben, indem sie im Duktus von Geschichtsfernsehen einen älteren Herrn in einer fernen Zukunft erzählen ließ, wie er im Corona-Winter 2020 zum Helden geworden sei.
Dramatische Streicher und kriegerische Begriffe wie "Front" und "Waffe" führen zu einer unerwarteten Wendung: Die Heldentat des Mannes bestand darin, nichts zu tun. Thomas J.J. Scherer erläutert, dass die Kampagne sehr unterschiedlich aufgenommen wurde, manche empfanden sie demnach als Verhöhnung, andere als gelungen und humoristisch.
Auszeichnung Hans Bausch Mediapreis 2024 geht an Thomas J. J. Scherer
Für seine Studie „Inszenierungen zeitgenössischer Propaganda. Kampagnenfilme im Dienste des Gemeinwohls“ wird Thomas J. J. Scherer mit dem Hans Bausch Mediapreis des SWR ausgezeichnet. Hier geht's zum Livestream:
Exakte Analyse
Gefühle sind schwer zu bewerten, deshalb hat sich Thomas J. J. Scherer den Kampagnen-Filmen mit den wissenschaftlichen Methoden der Filmanalyse genähert. Er hat sekundengenaue Tabellen erstellt, welche Einstellungen in welcher Geschwindigkeit aneinandergeschnitten sind, welche Geräusche, welche Musikstücke verwendet wurden, die Körpersprache der Schauspieler analysiert.
Sein Ziel: Nach der genauen Analyse zu beschreiben, welches Weltbild, welches Bild vom Menschen dem Spot zugrunde liegen. Denn wenn man die Haltung der Autoren einschätzen kann, kann man eher bewerten, ob die verwendeten Mittel akzeptabel sind.
Denn viele Filme wirken direkt auf das Gefühl ihrer Zuschauer. Und sie erwecken den Eindruck einer Welt, in der man alleine verantwortlich ist für möglicherweise katastrophale Folgen einmaliger Fehlentscheidungen.
Ein Spot der kanadischen Versicherungsgesellschaft "Société de lʼassurance automobile du Québec" beispielsweise spielt mit dem Bild, dass die Fehlentscheidung der Hauptfigur, nach einem Drink an der Bar zum Autoschlüssel zu greifen, notwendig fatale Folgen nach sich zieht.
Der Schlüssel in dem Spot hängt an einem Seil, das über Spulen mit allem, was kommt, verbunden ist. Es hebt das Atemmessgerät in der Hand einer Polizistin zum Mund des Fahrers, es schließt den Reißverschluss an einem Leichensack, es bewegt den Hammer des Richters und schließt die Gittertür in einem Gefängnis.
Filme schaffen Weltbilder
Solche Spots erzeugen ein Bild von der Wirklichkeit, wie Kinofilme das auch tun, betont Thomas J.J. Scherer. Damit rufen sie starke Reaktionen bei uns hervor. Im Falle des genannten Spots lässt sich das vielleicht damit legitimieren, dass er Menschenleben retten könnte. Wie ist es aber beispielsweise, wenn mit schwer erträglichen Bildern auf das Leid von Tieren hingewiesen wird?
Wieviel Überrumpelung ist erlaubt?
Scherer will eine Debatte darüber anstoßen - und mit seinem Buch wissenschaftliches Handwerkszeug für diese Debatte zur Verfügung stellen. Die Frage ist, welche Art von Beeinflussung mit den Mitteln moderner Medien wir als Gesellschaft akzeptieren.
Filme können auf Ideen bringen
Scherer hat auch nach jahrelanger Beschäftigung mit dieser Form der "Propaganda" noch immer ein gespaltenes Verhältnis dazu. Für sich selbst formuliert er, dass er Filme problematisch findet, die anklagen und trennen. Dagegen schätzt er Spots, die einem helfen, mal die Perspektive zu wechseln, Filme, die gemeinsame Horizonte aufzeigen. Beispielsweise einen Werbefilm der Aktion Mensch, der die These anschaulich macht, dass nicht Menschen behindert sind, sondern Orte, die diese Menschen behindern. Und dass sich dagegen etwas tun lässt.