Kerzen vor einer Schule in Offenburg.

Interview mit einem Schulpsychologen

Nach Amoklauf in Offenburg: "Manche haben Panik vor Schulgong"

Stand
Autor/in
Jenny Beyen
Moderator/in
Andreas Herrler
Andreas Herrler steht im Gang eines SWR-Gebäudes.

Schulpsychologe Benjamin Hennig war nach dem Amoklauf in Offenburg im November 2023 vor Ort. Im Interview erzählt er, ob und wie Schüler danach zurück in den Alltag finden können.

Ein gutes halbes Jahr nach dem Amoklauf an einer Schule in Offenburg versuchen nach wie vor viele Schülerinnen und Schüler, ihren Weg in den Alltag zurückzufinden. Was das heißt, erklärt Benjamin Hennig. Er und seine Kolleginnen und Kollegen vom Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung in Freiburg haben die Kinder und Jugendlichen von Anfang an betreut.

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SWR Aktuell: Herr Hennig, haben viele Schülerinnen und Schüler der betroffenen Schule nach dieser Tat Hilfsangebote in Anspruch genommen?

Benjamin Hennig: Ja, das kann man sagen. In den ersten drei Wochen nach der Tat waren 22 Schulpsychologinnen und -psychologen in wechselnder Besetzung an der Schule und an Nachbarschulen präsent. Das heißt, jede Schülerin und jeder Schüler hatte Angebote von uns und wir haben auch mit den Schulklassen gearbeitet, so dass die Hilfsangebote bekannt und auch zugänglich waren.

Wie können Schülerinnen und Schüler Erlebtes verarbeiten - dazu äußerte sich Schulpsychologe Benjamin Hennig auch in der Sendung SWR Aktuell am 13.11.2023:

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SWR Aktuell: Wie laufen solche Hilfsangebote dann ab? Sind das vorwiegend Gespräche, Einzelgespräche, Gruppengespräche - wie muss man sich das vorstellen?

Hennig: Beides oder alles, was Sie gesagt haben. Das Erste ist aber, dass wir im Krisenmanagement unterstützen, also die Schulleitung und das Kollegium stützen. Die sind in einer ganz schwierigen Situation: Zum einen sind sie Betroffene, zum anderen sind sie die Bezugsperson für die Schülerinnen und Schüler und müssen mit ihrer eigenen Betroffenheit umgehen und gleichzeitig professionell funktionieren. Und das braucht unser besonderes Augenmerk, damit die Schule sich möglichst schnell auf das Ereignis einstellen kann und sich neu organisiert unter den völlig veränderten Bedingungen. Und dann geht es darum, Angebote für die Schülerinnen und Schüler zu machen. Das heißt: Arbeit in den besonders betroffenen Schulklassen, Gesprächsangebote für die Schülerinnen und Schüler und natürlich auch für die Eltern und die Lehrkräfte vor Ort.

SWR Aktuell: Geht es dabei denn auch darum, möglicherweise Ängste abzubauen? Also, dass Schülerinnen und Schüler sagen, sie haben Angst, in die Schule zu gehen nach einer solchen Tat?

Hennig: Ja, das war hier auch eine besondere Situation. Es gab weiterhin leider ein Gefühl der Bedrohung aufgrund der Gerüchteküche, auf die die Schüler mehr oder weniger stark angesprungen sind. In den sozialen Medien, im Schulbus, von den Eltern auch gestreut, hieß es, dass noch eine diffuse Bedrohungslage weiter besteht. Und es musste dann viel Aufklärungsarbeit geleistet werden, auch mithilfe der Polizei, um diese Ängste wieder zu nehmen.

Natürlich ist so ein Ereignis für die Kinder eine enorme Verunsicherung. Sie lernen an sich selber Reaktionen, Emotionen kennen, die sie noch nicht kannten. Und da braucht es ein stabiles Gegenüber, das den Schülern hilft, das auch wieder einzuordnen und damit umzugehen. Und da reagieren die Kinder und Jugendlichen sehr unterschiedlich. Es gibt Kinder, die sehr aufgedreht sind, sehr aktiv, andere sind zurückgezogen, werden ganz still. Wieder andere reagieren mit Angstreaktionen oder Panikattacken auf kleine auslösende Reize, zum Beispiel auf den Schulgong. Da braucht es ganz unterschiedliche Angebote von uns.

Aufgehalten wurde der Offenburger Amokläufer von einem Vater, der zufällig vor Ort war. Dafür ist der Mann Anfang des Jahres ausgezeichnet worden:

SWR Aktuell: Bei all diesen unterschiedlichen Reaktionen: Gibt es eigentlich auch Schülerinnen und Schüler, die eine solche furchtbare Tat mehr oder weniger unbeschadet wegstecken?

Hennig: Ja, es gibt natürlich zum Glück auch Schüler, die sehr resilient sind oder die davon jetzt nicht weiter beeindruckt waren. Die hatten vielleicht auch nicht so viele Risikofaktoren, kannten zum Beispiel Täter und Opfer überhaupt nicht. Und da sind auch die Bedürfnisse ganz unterschiedlich. Es gibt Schüler, die gern wieder schnell zur Normalität zurückkommen wollen, die wieder Unterricht haben wollen, und andere Schüler, die sich das wochenlang noch nicht vorstellen können, jetzt wieder ganz normal am Unterricht teilzunehmen.

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SWR Aktuell: Eine solche Tat zu verarbeiten ist natürlich auch ein längerer Prozess. Wie wichtig ist dafür, dass heute womöglich ein Urteil fällt?

Hennig: Das ist schwierig zu sagen, denn auch das ist für die Schüler sicher unterschiedlich. Und es ist auch die Frage, ob das Urteil dann so sein wird, wie sich die von der Tat Betroffenen das wünschen. Es wird ja nach Jugendstrafrecht erfolgen, da werden ganz viele Faktoren zu berücksichtigen sein. Und das kann natürlich auch noch mal erneuten Stress oder Enttäuschung oder Wut auslösen, wenn das Urteil nicht so ausfallen wird, wie man sich das gedacht hat. Aber prinzipiell kann man schon sagen, dass es dann sicher auch wieder ein Schritt zurück in die Normalität sein wird.

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