Ein ungewöhnlicher Anblick: Rund 150 Menschen haben sich am Samstag auf den Platz der Alten Synagoge gelegt. Damit wollten sie auf die starke Erschöpfung aufmerksam machen, unter der ME/CFS-Betroffene leiden. Die Zahl der Erkrankungen ist mit der Corona-Pandemie größer geworden. Dennoch ist Krankheit kaum erforscht.
Immer mehr ME/CFS-Betroffene
ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die seit 1969 bekannt ist. Betroffene leiden häufig unter Muskel- und Kopfschmerzen sowie chronischer Erschöpfung. Selbst alltägliche Aufgaben wie das Zähneputzen fallen ihnen schwer. Viele Menschen mit ME/CFS sind arbeitsunfähig, ans Bett gebunden und auf Pflege angewiesen. Trotz der langen Bekanntheit der Krankheit gibt es für die Betroffenen kaum medizinische Versorgung.
Durch die Corona-Pandemie hat ME/CFS in den vergangenen Jahren zunehmend an öffentlicher Aufmerksamkeit gewonnen. Die Erkrankung gilt als schwerste Form von Long COVID. Laut Schätzungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) waren im Jahr 2021 etwa 500.000 Menschen von ME/CFS betroffen. Aufgrund der Pandemie wird weiterhin ein enormer Anstieg der Erkrankungszahlen erwartet. Die Krankheit kann allerdings auch ohne eine Corona-Infektion auftreten.
Freiburger Vater einer ME/CFS-Erkrankten fordert mehr Hilfen
Für den Freiburger Helmut Frahs ist es wichtig, an der Demonstration teilzunehmen. Er möchte darauf aufmerksam machen, dass erkrankte Menschen in der Gesellschaft oft unsichtbar sind und ihre Stimmen nicht gehört werden. Frahs ist stellvertretend für seine Tochter Martha vor Ort, da sie selbst nicht teilnehmen kann. "Für sie ist das unmöglich", so Frahs. Seit Martha vor zwei Jahren an Corona erkrankte, ist die 16-Jährige pflegebedürftig und ans Bett gefesselt. Selbst das Aufsitzen für eine Minute oder ein kurzes Telefonat mit einer Freundin koste sie enorm viel Energie.
Frahs berichtet auch von Schwierigkeiten im Umgang mit Ärzten. "Ich habe es schon mehrmals erlebt, dass Ärzte nicht einmal wussten, dass die Krankheit existiert", erklärt er. Viele Betroffene und Angehörige seien verzweifelt. Der Familienvater wünscht sich, dass man ihm angemessen zuhört und ihn ernst nimmt. Vor allem hofft er jedoch, dass seine Tochter in Zukunft die medizinische Versorgung erhält, die sie benötigt.
Offenburger Arzt behandelt Betroffene in seiner Freizeit
Die Behandlung von ME/CFS-Erkrankten wird durch zahlreiche strukturelle Hindernisse im Gesundheitssystem erschwert. Das wird von Patrick Gerner, dem Leiter der Kinderklinik in Offenburg (Ortenaukreis), bestätigt. Aufgrund der Vorgaben im Gesundheitssystem sei es ihm nicht möglich, diese Patienten in seinem Krankenhaus zu versorgen. Eine Notfallbehandlung sei das Höchste, was er anbieten könne. Aus diesem Grund kümmert sich der Chefarzt in seiner Freizeit um ME/CFS-Betroffene und besucht sie zu Hause. Viele von ihnen seien ohnehin nicht in der Lage, in die Klinik zu kommen. Die Klinikumgebung und die damit verbundenen Reize würden die Erkrankten zusätzlich überfordern. Die ambulante Behandlung ist sehr zeitaufwändig und wird von vielen Haus- und Kinderärzten nicht bewältigt.
Daher fordert Gerner eine Ausweitung der Strukturen und Angebote im ambulanten und stationären Bereich: "Denn die Erkrankung ist nahezu unversorgt." Bei der Suche nach Hilfe seien die Patienten gezwungen, sich alles selbst im Internet zusammenzusuchen. Einige von ihnen gingen zu Heilpraktikern oder suchten teure Privatärzte auf. "Das ist eine ganz schlechte Versorgung", resümiert der Chefarzt.
Initiative #LiegendDemo bundesweit aktiv
Die Demonstration in Freiburg ist Teil der bundesweiten Initiative #LiegendDemo, die im Mai vergangenen Jahres ins Leben gerufen wurde. Sie fand bereits in mehreren Städten statt, darunter Ulm und Leipzig. Im April 2022 haben sich die Selbsthilfegruppen aus Baden-Württemberg, einschließlich der Initiative ME/CFS Freiburg, im Netzwerk ME/CFS BW zusammengeschlossen. Ihr gemeinsames Ziel ist es, sich für eine Verbesserung der Versorgung und Behandlung von ME/CFS-Patienten einzusetzen. Zudem machen sie sich für die Fortbildung der Ärzteschaft und die Erforschung dieser schweren multisystemischen Krankheit stark.