Vor Corona gab es die Krankheit, die auch mit "ME/CFS" ("Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom") abgekürzt wird, auch schon. Mit Corona hat sich die Zahl der Betroffenen allerdings schätzungsweise nahezu verdoppelt. Wir haben mit der Ärztin Dr. Isabelle Greber aus Boppard über diese Krankheit gesprochen.
SWR1: Es gibt Menschen, die gehen zum Arzt und dann wird denen gesagt, dass sie eine Depression haben, obwohl es ME/CFS ist. Wo sind da die Unterschiede?
Dr. Isabelle Greber: Der Unterschied ist, dass depressive Menschen zwar auch schwer krank sind, aber vor allem an Antriebslosigkeit leiden. Und das ist bei ME/CFS nicht der Fall. Also ME/CFS-Patienten sind zwar häufig auch ans Bett gefesselt und können nicht gut aufstehen oder können keine Dinge unternehmen, aber sie wollen gerne. Sie haben Ziele, sie haben Pläne und sie haben auch einen guten Antrieb. Aber sie können das nicht ausleben.
Es ist eben keine alleinige chronische Erschöpfung oder bleierne Müdigkeit, sondern die Muskulatur ist geschwächt, die Patienten haben Schmerzen, sie haben kognitive Probleme, also die Gedächtnisleistungen sind eingeschränkt und immunologische Probleme gibt es auch noch. Es ist ein Konglomerat (Anm. d. Redaktion: Gemenge) an verschiedenen Symptomen oder Organsystemen, die da betroffen sind.
Wie kann man ME/CFS therapieren?
SWR1: Wie kann man den Menschen helfen, nachdem man die Diagnose gestellt hat und wie funktioniert die Therapie?
Greber: Das ist sehr individuell, es gibt einige Medikamente, die kann man Off-Label verwenden. Off-Label bedeutet, dass sie nicht für die Behandlung von ME/CFS zugelassen sind. Wir haben überhaupt keine zugelassenen Medikamente für die Erkrankung. Das heißt ich muss den Patienten darüber aufklären, dass die Medikamente nicht zugelassen sind und ich als Arzt trage ein gewisses Risiko, wenn ich das tue.
Ansonsten muss man die Symptome behandeln. Also wenn der Patient Schlafstörungen hat, dann muss ich gucken, dass ich die Schlafstörung behandele, denn es ist ganz wichtig, dass die Patienten zu einem normalen Schlaf-Wach-Rhythmus, der oft schwer gestört ist, zurückkehren. Da ist die Auswahl an Medikamenten ein bisschen anders, als es bei normalen Schlafstörungen ist.
Ich muss die Schmerzen behandeln, die oft nicht gut auf die normale Stufentherapie ansprechen. Die Patienten haben oft Kreislaufprobleme, auch da gibt es Medikamente, die helfen, die normalerweise vielleicht nicht so oft eingesetzt werden.
SWR1: Haben Sie die Befürchtung, dass die Long-Covid-Patienten mit diesen ME/CFS-Symptomen mehr werden, obwohl die Intensivstationen vergleichsweise normal bis schwach belegt sind und die Menschen nicht mehr so schwer akut erkranken?
Greber: Also erstens ist es so, dass unter Omikron zum Glück die Häufigkeit von Long Covid geringer geworden ist. Also es sind weniger Patienten erkrankt im Verhältnis. Aber wir hatten leider auch viel mehr Fälle. Das sieht mit den neuen Varianten ganz ähnlich aus.
Natürlich müssen wir abwarten, wie es am Ende dann wirklich gewesen sein wird. Aber es wird auch unter den neuen Varianten mit Sicherheit neue Fälle geben. Was auch problematisch ist, ist, dass es im Moment so aussieht, dass mehrere Infektionen auch das Risiko für Long Covid erhöhen, vor allem, wenn man schon Long Covid hatte, genesen ist, und dann nochmal eine Infektion bekommt. Also diese Menschen sollten sich ganz besonders schützen.
Wie funktioniert Pacing als Hilfe für Erkrankte?
SWR1: Ich lese hier von Pacing als Hilfe für ME/CFS Erkrankte. Was heißt das genau? Was passiert da?
Greber: Pacing ist ein Krankheitsmanagement. Dabei muss strikt darauf geachtet werden, jegliche Überlastung, die zu einer Zustandsverschlechterung führen kann, zu vermeiden. Das heißt, die Patienten müssen, bevor die Überlastung kommt, schon wieder die Reißleine ziehen. Bei manchen bedeutet das, dass sie vielleicht nur zehn Minuten statt zwei Stunden telefonieren können. Bei anderen heißt es, sie können noch nicht mal den Kopf im Bett anheben.
Pacing ist ganz gegenintuitiv. Normalerweise denkt man ja, wenn man krank ist, dass man sich bewegen muss, raus an die frische Luft und sich etwas Gutes tun muss. Und Pacing bedeutet, die Reißleine ziehen und möglichst wenig tun. Also immer nur in dem Rahmen, dass es zu keiner Zustandsverschlechterung kommt.
Da gibt es eine ganz schöne Löffel-Theorie. Da stellt man sich vor, man nimmt zwölf Löffel aus der Besteckschublade und hat die zur Verfügung, um seine Energie zu verbrauchen. Das heißt, jeder Löffel steht für ein bisschen Energie und mehr als zwölf Löffel hat man am Tag nicht. Dann muss man sich überlegen, wofür man die Löffel einsetzt. Setze ich die Löffel ein, um zu duschen oder um Essen zuzubereiten oder um zu essen? Oder mache ich einen Arztbesuch? Dann sind schon mal vier Löffel weg. Das heißt, man muss sich diese Energie sehr gut einteilen. Da hilft dieses Löffel-Modell.
Das Gespräch führte SWR1 Moderator Hanns Lohmann.