Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hat sich für den Ausbau der Rüstungsindustrie in Baden-Württemberg ausgesprochen. Europa müsse seine Verteidigung selbst in die Hand nehmen und eine potente Rüstungsindustrie aufbauen - "und da wollen wir in Baden-Württemberg mitmischen", sagte er in einem "Südkurier"-Interview am Dienstag. In diesem Bereich werde ein neuer industrieller Schwerpunkt im Land entstehen.
Einige Schlüsselakteure für den Ausbau der europäischen Verteidigungsfähigkeit befänden sich bereits in Baden-Württemberg, so der Ministerpräsident. Etwa die in Überlingen im Bodenseekreis ansässige Firma Diehl Defence, die bei bestimmten Luftverteidigungssystemen weltweit führend sei. Sie schütze schon heute den ukrainischen Luftraum.
Kretschmann hatte Diehl Defence im Mai 2023 zusammen mit dem Botschafter der Ukraine besucht. Dabei wurde das Raketenabwehrsystem Iris gezeigt, das in der Ukraine im Einsatz ist. Ziel der gesamten Verteidigungswirtschaft müsse es sein, führende Technologien herzustellen, so der Ministerpräsident.
Kretschmann: Aufrüstung zur Verteidigungsfähigkeit
Moralische Vorbehalte beim Thema Aufrüstung hat Winfried Kretschmann nicht. Er sei nie Pazifist gewesen, sagte er im Zeitungsinterview - anders als seine Partei, Bündnis 90/Die Grünen. Doch habe die Partei die Pazifismus-Debatte seit dem Kosovokrieg hinter sich gelassen. "Das ist ausgestanden", so der Regierungschef. Winfried Kretschmann ist seit 14 Jahren im Amt.
Ich war noch nie ein Pazifist.
Beim Thema Aufrüstung gehe es allerdings ausschließlich um die Verteidigungsfähigkeit, so Kretschmann. Rüstung müsse ausgebaut werden, um sie nicht einsetzen zu müssen. Technologie-Führerschaft müsse dabei der Anspruch in der gesamten Verteidigungswirtschaft sein.
800 Milliarden Euro-Plan für Aufrüstung in Europa? Folge der Krise: Automobilzulieferer produzieren jetzt für die Rüstungsindustrie
Die Krise belastet Automobilzulieferer, nun produzieren einige auch Rüstungsgüter. Teilweise werden Mitarbeiter von Rüstungskonzernen übernommen oder untereinander ausgetauscht.
Hensoldt-Chef: Übernahme von Beschäftigten von Bosch und Continental
Teile der kriselnden deutschen Industrie hoffen auf neue Auftraggeber aus der Rüstung. Rüstungskonzerne wiederum suchen Fachkräfte und auch Fabriken, um Produktionen hochzufahren.
Dabei will die Branche auch auf Beschäftigte der Fahrzeugindustrie zurückgreifen. "Wir profitieren von den Schwierigkeiten der Autoindustrie", sagte Hensoldt-Chef Oliver Dörre in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters. Das Unternehmen mit dem Stammsitz Taufkirchen/Ottobrunn bei München baut High-Tech-Radare und Sensoren. Diese sind zur Luftverteidigung in der Ukraine im Einsatz.
Weitere Hensoldt-Standorte in Baden-Württemberg gibt es in Ulm, Oberkochen (Ostalbkreis), Immenstaad am Bodensee und Pforzheim. Man sei in Gesprächen mit den Autozulieferern Continental und Bosch über die Übernahme von Beschäftigten, erklärte Dörre gegenüber Reuters.
Wir profitieren von den Schwierigkeiten der Autoindustrie.
Rüstungsfirma braucht auch Kabelbäume aus der Autoindustrie
Darüber hinaus könnte Hensoldt gewisse Komponenten per "Auftragsfertigung" herstellen lassen. Die Aufträge gingen dann an Firmen, die bisher auf die Autobranche spezialisiert waren. Dadurch würden wir der etablierten Basis der Automobilindustrie Auslastung zur Verfügung stellen, meint Dörre.
Hensoldt verbaue etwa Kabelbäume in Sensoren. Und die gebe es auch in Fahrzeugen. Oliver Dörre kündigte an: "Das Thema wird uns 2025 beschäftigen und wir werden hier die nächsten Schritte gehen."
Grüner Joschka Fischer fordert europäischen Atomschirm
Kretschmanns Parteifreund und Ex-Außenminister Joschka Fischer hatte sich für einen europäischen Atomschirm ausgesprochen. Hauptgründe für seine Forderung: die russische Aggression in der Ukraine und die Krise der transatlantischen Beziehungen. Deutschland müsse außerdem die Wehrpflicht wieder einführen, so Fischer.
Angesichts des Streits über die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands wird über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht diskutiert. Joschka Fischer war ein Befürworter der Abschaffung der Wehrpflicht. Nun sagt er: "Das war ein Fehler, den wir revidieren müssen. Die Wehrpflicht muss wieder eingeführt werden - für beide Geschlechter. Ohne diesen Schritt werden wir beim Schutz Europas nicht vorankommen."