Nach Innenminister Thomas Strobl und Justizministerin Marion Gentges (beide CDU) ist nun auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) dafür, die gesetzliche Strafmündigkeit zu prüfen. Der Anstieg tatverdächtiger Kinder und Jugendlicher sei ein Warnzeichen, erklärte Kretschmann am Dienstag in Stuttgart.
Anstieg um mehr als ein Drittel Kriminalität: Immer mehr tatverdächtige Kinder in BW
Die Polizei erfasst immer mehr Tatverdächtige unter 14 Jahren. Ein Grund für den bundesweiten Trend: Kinderpornografische Bilder und Videos, die in Chatgruppen geteilt werden.
Die Altersgrenze von 14 Jahren bestehe bereits seit 1923, so der Ministerpräsident. Jetzt solle man wissenschaftlich klären, ob sich der Reifungsprozess und damit die Entwicklung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit bei der heutigen Generation geändert habe. "Das scheint mir ein völlig legitimes Anliegen zu sein."
Kretschmann betonte, er sei noch aufgewachsen mit einer Volljährigkeit ab 21 Jahren. Die Welt habe sich geändert. "Die Studie kann ein gangbarer Weg sein, da zu besseren Erkenntnisgrundlagen zu kommen." Mit Blick auf die steigende Kriminalität sagte Kretschmann aber auch, dass das Strafrecht nur ein Baustein sei.
Die Gründe für Kriminalität unter Jugendlichen sind vielschichtig
Was zum Anstieg der Jugendkriminalität in Baden-Württemberg, aber auch in ganz Deutschland, geführt hat, ist umstritten. Während manche Fachleute glauben, dass Smartphones und Social Media zur Kriminalisierung beigetragen haben, sehen andere in der Corona-Pandemie einen wichtigen Grund.
Robert Ileka, Leiter eines Jugendstrafvollzugs in Creglingen (Main-Tauber-Kreis), erklärte im SWR-Interview, die psychische Belastung von Jugendlichen sei gestiegen, auch durch die Pandemie. "Die Schulen waren geschlossen, Hobbys und Freizeitaktivitäten fielen weg und der Kontakt zu Freunden fehlten", sagte Ileka. Dass viele Familien zudem mehrere Monate in kleinen Wohnungen zusammengelebt hätten, habe sein Übriges getan. Diese steigende Belastung mache sich jetzt auch in der Zahl der Straftaten bemerkbar, so Ileka.
Strafvollzugsleiter aus Creglingen ist überzeugt: "Psychische Belastungen führen Jugendliche in die Kriminalität"
Psychische Belastungen sorgen für immer weiter steigende Jugendkriminalität. Das "Projekt Chance" in Creglingen will den jungen Straftätern in ein neues Leben helfen.
Grüne im Landtag bislang gegen Absenkung der Strafmündigkeit
Die Grünen im baden-württembergischen Landtag haben den Fokus bei der Bekämpfung der Jugendkriminalität bislang auf Prävention gelegt. Die rechtspolitische Sprecherin Daniela Evers sagte zuletzt: "Bevor wir über Strafen nachdenken, sollten wir uns doch fragen, welche Faktoren im Leben junger Menschen dazu führen, dass diese auffällig werden."
Man müsse mit Präventionsmaßnahmen, Elternarbeit und der Stärkung der Kinder- und Jugendhilfe verhindern, dass Kinder und Jugendliche auf die schiefe Bahn gerieten, sagte Evers. "Die Absenkung der Strafmündigkeit ist jedenfalls nicht die Lösung in dieser Situation."
Auch Strobl und Gentges fordern Überprüfung
Innenminister Strobl hatte am vergangenen Donnerstag in Stuttgart die aktuelle Kriminalstatistik für Baden-Württemberg vorgestellt und sich dabei besorgt über den Anstieg bei Kindern und Jugendlichen geäußert. Die Zahl der Tatverdächtigen unter 21 Jahren sei im vergangenen Jahr um 13,7 Prozent auf ein Zehnjahreshoch gestiegen. Die Zahl der tatverdächtigen Kinder unter 14 Jahren stieg zwischen 2014 und 2023 um gut 40 Prozent an.
Das sagen Experten Reihe von Gewalttaten in BW - ein besorgniserregender Trend?
Mehrere große Polizeieinsätze in Baden-Württemberg haben im Januar bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Ist ein Trend zu mehr Gewalt erkennbar? Experten geben eine Antwort.
Strobl hatte deshalb eine wissenschaftliche Überprüfung der Altersgrenze für die Strafmündigkeit gefordert. Im Jahr 1923 sei die Festsetzung der Grenze auf 14 Jahre nicht exakt begründet gewesen. "Es könnte doch sein, dass ein 14-Jähriger heute ein anderer ist als ein 14-Jähriger damals. Da hat sich in den vergangenen Jahrzehnten viel verändert", sagte Strobl.
Ein aktueller Fall könnte die Debatte um das Alter der Strafmündigkeit weiter vorantreiben: Am vergangenen Wochenende wurde eine 75-jährige Frau in Karlsruhe durch eine herabfallende Gaskartusche aus einem Hochhaus tödlich verletzt - laut Polizei und Staatsanwaltschaft steht ein 13-Jähriger im Verdacht, die Kartusche über die Balkonbrüstung im 14. Stock geworfen zu haben.
Sozialbehörde der Stadt nennt weitere Details Frau stirbt durch Gaskartusche: Stadt Karlsruhe hatte Kontakt zur Familie des Tatverdächtigen
Ein 13-Jähriger wird verdächtigt, eine Seniorin mit einer Gaskartusche tödlich verletzt zu haben. Die Stadt Karlsruhe stand nach eigenen Angaben schon vorher mit der Familie in Kontakt.
Gentges: Kriminalität unter Kindern könnte sich verändert haben
Baden-Württembergs Justizministerin Gentges vermutet ebenfalls, dass sich die Kriminalität unter Kindern verändert hat. Der Deutschen Presse-Agentur sagte sie am vergangenen Wochenende: "Wenn außerdem nach schlimmen Straftaten bekannt wird, dass ein Kind vor seiner Tat Informationen zur Strafmündigkeitsgrenze gegoogelt hat - und das war in der Vergangenheit der Fall - dann muss uns das zu denken geben."
Gentges will sich jetzt für eine Überprüfung auf Bundesebene starkmachen. Baden-Württemberg werde auf der Justizministerkonferenz Anfang Juni in Hannover einen entsprechenden Antrag einbringen, so die Justizministerin.