Was verraten kaputte Gartenzwerge über die Gesellschaft? Oder Bauruinen über den Kalten Krieg? Die Gegenwartsarchäologie kümmert sich nicht um die graue Vorzeit, sondern um Übrigbleibsel aus der jüngsten Vergangenheit, z.B.
- Abfälle von Protestcamps
- Graffiti von Punkmusikern
- Bierdosen aus Kleingärten
- Schmierereien in Toiletten und Hörsälen
- Bauten aus der Zeit des Kalten Krieges
- Die Entwicklung technischer Geräte
Die Gegenwartsarchäologie wird auch zeitgeschichtliche Archäologie genannt, englisch Archeology of the contemporary past. Die SWR2 Wissen-Sendung berichtet über einige teils provokante Forschungsprojekte.
Hörsaal-Graffiti
Das Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Kiel. Normalerweise doziert Ulrich Müller vorne am Pult über Archäologie und redet übers Mittelalter. Jetzt steht er zwischen den Bankreihen, wo sonst die Studierenden sitzen, und beugt sich tief über die Klapppulte.
„Auf diesem Tisch kann man sehen, dass ‚Flo furzt‘. An einem anderen Tisch steht: ‚Flo stinkt‘. Aber ansonsten: Wenn wir die Graffiti im Hörsaal insgesamt angucken, findet man Sexistisches und beleidigende Äußerungen eigentlich kaum. Das ist auch kein Wunder, weil natürlich diese Graffiti in enger Kommunikation mit den Nachbarn angebracht worden. Anders als Toiletten-Graffiti.“
Und was hat das mit Archäologie zu tun? Sehr viel, meint Müller: „Die Graffitiforschung ist im 19. Jahrhundert anhand antiker Graffiti entwickelt worden, in Pompeji und Herculaneum.“
Ein Archäologieprofessor vergleicht die Kritzeleien seiner Studierenden mit den Graffiti von Pompeji? Das ist ernst gemeint.
„Die gegenwärtige Graffitiforschung guckt zum einen auf Lager, Gefängnisse oder Kriegsgefangenenlager. Und die Europäische Ethnologie hat Graffiti sehr intensiv anhand von Toiletten erforscht.“
Müll oder Kulturerbe?
Die Grundannahme der Gegenwartsarchäologie ist radikal: All das Zeug unserer Zeit gehört ebenso zum Kulturerbe der Menschheit wie der Steinkreis von Stonehenge oder prähistorische Höhenmalereien. Nun kann man nicht jeden Gegenstand und jedes Gebäude dieser Welt unter Denkmalschutz stellen. Die Denkmalpfleger müssen eine Auswahl treffen. Welche Hinterlassenschaften sind schützenswert? Normalerweise dauert es eine Generation, also um die 30 Jahre, bis man das erkennt. In Deutschland gibt es eine berühmte Ausnahme:
Berliner Mauer: Plötzlich ein Thema für die Denkmalpflege
Axel Klausmeier leitet die Gedenkstätte Berliner Mauer. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 wurde deutlich: „Das ist jetzt nicht mehr der Sperrwall, der es bis vor kurzem noch war, sondern jetzt hat es einen komplett anderen Charakter.“
Klausmeier kennt die Denkmalpfleger, die damals von Ostberlin aus den Fall der Mauer miterlebt haben.
„Was machen die am 9. November? Jeder geht nachts rüber in den Westen. Die kommen am zehnten morgens zurück, und sitzen da irgendwie völlig verkatert beim Kaffee. Und der erste Satz ist: ‚Jetzt sind wir auch noch für die Mauer zuständig.‘ Die haben sofort in dieser Nacht erkannt: Hier ist etwas passiert. "
Kleingärten
In einem anderen Forschungsprojekt heben die Kieler Gegenwartsarchäologen eine verlassene Kleingartenparzelle erkundet. Sie wurde aufgegeben, weil dort ein großes Möbelhaus entstehen soll. „Es haben möglicherweise Wohnungslose, Obdachlose gewohnt und auch andere Leute.", sagt Ulrich Müller. „Und das macht es auch wieder für die Archäologie spannend, weil auch Jäger-Sammler-Plätze nicht permanent bewohnt wurden.“
Was die Kleingartenbesitzer gejagt und gesammelt haben, ist in einer Vitrine ausgestellt. Da finden sich: Ein Flickset für Fahrradreifen, eine Streichholzschachtel mit Streichhölzern, das Ventil eines Autoreifens, eine Wodkaflasche ohne Deckel und: Gartenzwerge.
Solarbetriebene Gartenzwerge! „Wir haben dann eine naturwissenschaftliche Untersuchung zur Materialzusammensetzung gemacht und haben rausgekriegt, dass sie eigentlich aus Plastik-Schrott bestehen. Das heißt also, es ist eine Massenproduktion, vermutlich China.“
Na und? Jeder weiß doch, wie es in einem Kleingarten zugeht. Welche Erkenntnis kann darüber hinaus die Archäologie beitragen?
„Was für uns überraschend war, war die Vielfalt.", sagt Müller. "Wie zum Beispiel eine Schweißstange, die wir gefunden haben.“
Die Schweißelektrode wurde nicht zum Schweißen benutzt. Sondern um Blumen daran festzubinden. „Die Umnutzung von Gegenständen fasziniert uns in der Archäologie schon immer, auch in früheren Epochen."
Das Protestcamp: Wenn Archäologie und Zeitzeugen sich widersprechen
Die Steinzeitmenschen und die alten Römer sind tot. Die Protagonisten der Gegenwartsarchäologie leben. Man kann sie befragen. Wozu also ihren Abfall analysieren? Weil die Dinge manchmal eine andere Geschichte erzählen als ihre Besitzer, sagt Claudia Theune, Archäologieprofessorin an der Universität Wien.
In England haben Gegenwartsarchäologen die Überbleibsel eines Protestcamps aus den 80er Jahren untersucht. Eine Gruppe von Frauen hatte dort gegen Atomwaffen demonstriert.
In Augenzeugenberichten heißt es, dass dort nur vegane Frauen gelebt haben. Doch die Archäologen fanden in den Hinterlassenschaften des Camps Überreste von Milchverpackungen gefunden. Also lebten sie anscheinend doch nicht vegan.
Das letzte Beispiel führt wieder in die deutsche Hauptstadt.
Der Teufelsberg im Berliner Grunewald.
Unter einer dünnen Schicht Erde und Gras steckt ein gigantischer Haufen Kriegsschutt, 120 Meter hoch. Die Briten und Amerikaner betrieben hier die wohl wichtigste Spionagestation im Kalten Krieg. Mehrstöckige Zweckbauten mit Computertechnik, Fernschreibern und abhörsicheren Räumen. Hinter weißen Kuppeln rotierten Radarschüsseln. Die Geheimdienste fingen Funksprüche aus dem Ostblock ab.
„Es zeigt Technikgeschichte“, erklärt Klausmeier. „Es zeigt politische Geschichte, es zeigt Baugeschichte. Dass dieses Ding zufälligerweise auch noch aussieht wie ein Phallus, ist ja auch mal interessant.“
Historiker wüssten heute gerne: Wie gut war die Abhörtechnik? Was haben die Briten den Amerikanern verraten und umgekehrt? Haben sie auch die Westdeutschen belauscht? Während Berlin über die Reste der Mauer diskutierte, geriet der Teufelsberg in Vergessenheit. Die Abhörstation verwilderte – und wurde zu einem Forschungsobjekt für die Gegenwartsarchäologie.
John Schofield: Archäologie des Kalten Kriegs
John Schofield hat die Gegenwartsarchäologie mit begründet. Er ist ein Experte für den Kalten Krieg. Diesen Mann beauftragte Axel Klausmeier mit der Erforschung des Teufelsbergs. John Schofield und sein Kollege Wayne Cocroft kamen im Sommer 2011 für zehn Tage nach Berlin, haben den Teufelsberg vermessen und buchstäblich Staub aufgewirbelt.
Für John Schofield war dies eine Reise in die eigenen Vergangenheit. An diesem Ort hatte sein Vater Arthur gearbeitet. Doch der Vater hatte den Official Secrets Act unterzeichnet, ein lebenslanges Schweigegebot.
John Schofield fand bei seinen Forschungen am Teufelsberg heraus, dass die Briten und die Amerikaner damals vermutlich kaum Informationen austauschten. Es gab nur eine schmale Treppe zwischen den beiden Gebäudetrakten, die Tür gesichert mit einem Kombinationsschloss.
„Das wichtigste Ergebnis ist, dass die Briten und die Amerikaner ihre Spionagetätigkeit nicht miteinander koordinierten. Die 'besondere Beziehung', die zwischen den Briten und den Amerikanern traditionell beschworen wird, kann auf dem Teufelsberg nicht so besonders gewesen sein, wenn sie völlig getrennt gearbeitet haben. Diese Erkenntnis findet man nirgendwo, sondern es ist eine Schlussfolgerung, die wir aus der physische Untersuchung des Gebäudes gezogen haben."
SWR 2020