In der ersten öffentlichen Stellungnahme der Sowjetunion nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl reagierte Michail Gorbatschow auf die Kritik des Westens. Er forderte zur internationale Zusammenarbeit in Kernenergiefragen auf.
Zwei Wochen nach der Havarie schildert Michael Gorbatschow die sowjetische Sicht der Katastrophe im Kernkraftwerk Tschernobyl. In einer knapp halbstündigen Fernsehansprache weist er auf den "außerordentlichen und gefährlichen Charakter der Geschehnisse" vor Ort hin. Er erläutert, wie es zu dem Unfall kommen konnte und versichert, dass alle Anstrengungen unternommen worden seien, um die Menschen zu informieren, die Havarie zu beseitigen und die schweren Folgen zu begrenzen.
Erste Bilanz der Katastrophe
Trotz der eingeleiteten Maßnahmen seien bei der Havarie zwei Menschen ums Leben gekommen. 299 lägen mit Strahlenerkrankungen unterschiedlichen Grades in Krankenhäusern, davon seien bereits sieben Menschen in Folge der Verstrahlung gestorben. Gorbatschow spricht allen Betroffen sein Mitgefühl aus und versichert, dass die sowjetische Regierung für die Familien der Todesopfer und Geschädigten sorgen werde.
Er könne "mit Fug und Recht [...] sagen, bei aller Schwere des Geschehenen konnte der Schaden in entscheidendem Maße, dank des Mutes und des Könnens der Menschen, dank ihrer Pflichttreue, Dank der Dynamik der Handlungen aller, die sich an der Beseitigung der Folgen der Havarie beteiligten, in Grenzen gehalten werden."
Kritik an der "Hetze" des Westens
Gorbatschow würdigt die Anteilnahme des Auslands, in erster Linie von Seiten der sozialistischen Länder. An den "Regierungen, Politikern und Massenmedien einiger NATO-Länder, besonders der USA" übt er heftige Kritik. Sie hätten eine "zügellose antisowjetischen Hetze entfacht. Was sie in diesen Tagen nicht alles redeten und schrieben, von tausenden Opfern, Massengräbern, vom ausgestorbenen Kiew, davon dass der ganze Boden der Ukraine vergiftet ist. Alles in allem haben wir es fürwahr mit einem aufgetürmten Berg gewissenloser und böswilliger Lügen zu tun."
In Bezug auf die vom Westen kritisierte Informationspolitik der Sowjetunion verwies Gorbatschow an die Adresse der USA:
"Alle erinnern sich noch daran, dass die amerikanischen Behörden zehn Tage brauchten, um den eigenen Kongress zu informieren, und Monate, um die Weltöffentlichkeit davon in Kenntnis zu setzen, welche Tragödie sich 1979 im Kernkraftwerk Three Miles Island ereignet hatte."
Ost-West-Dialog in Gefahr
Durch dieses Vorgehen behinderten die USA und ihre engsten Verbündeten den Dialog zwischen Ost und West und hätten eine Möglichkeit gefunden, das nukleare Wettrüsten zu rechtfertigen. Im Gegensatz dazu verstehe die Sowjetunion den Unfall im Kernkraftwerk als "weiteres Alarmsignal dafür, dass die nukleare Epoche ein neues politisches Denken erfordere." Der außenpolitische Kurs der Sowjetunion, der auf dem 27. Parteitag der KPdSU ausgearbeitet worden war, sei der richtige: Die vollständige Beseitigung der Kernwaffen und die Schaffung eines allumfassenden Systems der internationalen Sicherheit.
Gorbatschow führte weiter aus:
"Heute sind in verschiedenen Ländern der Welt mehr als 370 Kernreaktoren in Betrieb. Das ist die Realität. Man kann sich die Zukunft der Weltwirtschaft ohne die Entwicklung der Kernenergie schwer vorstellen. In unserem Land sind heute 40 Reaktoren mit einer Gesamtkapazität von mehr als 28 Millionen Kilowatt in Betrieb. Bekanntlich bringt das friedliche Atom der Menschheit nicht wenig Nutzen. Es versteht sich aber, dass wir alle verpflichtet sind, mit noch größerer Umsicht vorzugehen und die Anstrengung von Wissenschaft und Technik auf die Gewährleistung einer sicheren Meisterung der gewaltigen und ungeheuren Kräfte zu konzentrieren, die im Atomkern stecken."
Das Atomzeitalter fordere mit Macht ein neues Herangehen an die internationalen Beziehungen. Es gehe um die Beendigung des "todbringende Wettrüstens" und eine radikale Verbesserung des internationalen Klimas.
Reaktionen auf die Rede
Die verspätete Rede fand im Westen unterschiedliche Aufnahme. Das Echo aus Washington war vergleichsweise milde. Führende amerikanische Zeitungen gestanden dem Parteichef sogar zu, dass seine Kritik an den maßlosen Übertreibungen verschiedener westlicher Medien ihre Berechtigung habe.
Michail Gorbatschow ist tot | 30. August 2022 | tagesschau.de
Reaktorkatastrophe von Tschernobyl
28.4.1986 Das Reaktorunglück in Tschernobyl wird bekannt
28.4.1986 | Am 26. April 1986 explodierte um 1.24 Uhr Ortszeit einer der vier Reaktorblöcke im Kernkraftwerk Tschernobyl nahe dem Ort Prypjat in der Ukraine. Bei der Explosion wurden radioaktive Stoffe rund 1.200 Meter hoch in die Luft geschleudert. Drei großen Wolken verteilten die radioaktiven Partikel in den darauffolgenden Tagen über Europa. Die Öffentlichkeit war bis zum Abend des 28. April 1986 ahnungslos.
29.4.1986 Erste internationale Reaktionen auf den Reaktorunfall in Tschernobyl
29.4.1986 | Nach Bekanntwerden des Reaktorunfalls in Tschernobyl war das Informationsbedürfnis der westlichen Staaten groß. Das Korrespondentennetzwerk der ARD lieferte Informationen aus allen von der Radioaktivität betroffenen Ländern.
29.4./7.5.1986 Berichterstattung über das Reaktorunglück in Tschernobyl in der DDR
29.4./7.5.1986 | Auch die Medien in der DDR berichteten über die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Zunächst die Erklärung des Sprechers des Staatlichen Amts für Atomsicherheit und Strahlenschutz in der DDR vom 29. April 1986. Es folgt ein Gespräch der DDR-Wissenschaftler Prof. Dr. Günther Flach und Prof. Dr. Karl Lagius im Radio DDR am 30. April 1986. Beide Wissenschaftler können die Kritik an der Sowjetunion nicht nachvollziehen. Sie sehen darin eine üble Hetzkampagne des Westens. Anschließend ein Kommentar vom 2. Mai 1986 von Klaus Dieter Kröber zur Berichterstattung der westlichen Medien. Und schließlich die Nachrichten des Berliner Rundfunks vom 7. Mai 1986. Es geht darin um die Absage eines Jugendaustauschs; eine Gruppe Jugendlicher aus Baden-Württemberg hatte die DDR besuchen wollen.
6.5.1986 Was darf man nach Tschernobyl noch essen? Live-Sendung aus Schifferstadt
6.5.1986 | In den zwei Wochen nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl war die Verunsicherung groß. Was kann die Giftwolke anrichten? Es wurde davor gewarnt, bei Regen rauszugehen oder Kinder im Sandkasten spielen zu lassen. Auch Salat und Blattgemüse sollten lieber nicht gegessen werden. Und dann war ja gerade Spargelzeit – darf der Spargel geerntet und verkauftet werden? Am 6. Mai 1986 brachte der Südwestfunk eine Live-Sendung aus Schifferstadt, in der Hörerinnen und Hörer ihre Fragen stellen konnten.
14.5.1986 Bundestagsdebatte zu Tschernobyl und Atomkraft
14.5.1986 | Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ist am 14. Mai 1986 Thema im Bundestag. Die Debatte ist für 2 Stunden angesetzt und dauert mehr als doppelt so lang. Sie zeigt, welche Zäsur das Ereignis bedeutete. Auf der einen Seite Union und FDP, die sich durch Tschernobyl nicht davon abbringen ließen zu beteuern, dass in Deutschland die sichersten Atomkraftwerke der Welt stehen und sich auch sonst Umweltprobleme am besten mit Technik lösen lassen – Helmut Kohl spricht gar von umweltfreundlichen Autos. Er meint die mit Katalysatoren. Auf der anderen Seite die Grünen, die sich durch Tschernobyl in ihrer Anti-Atom-Haltung bestätigt sehen, und die SPD, die, wie die Rede des damals noch jungen Gerhard Schröder zeigt, nun auch auf diesen Kurs einschwenkt. | Helmut Kohl: 01:22
18. und 19.5.1986 Demonstration gegen die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf
18./19.5.1986 | An Pfingsten 1986 demonstrieren Zehntausende gegen den Bau der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. Der Rundfunkjournalist Ulrich Böken war mit dem Mikrofon vor Ort. Sein Rohmaterial zeichnet ein Stimmungsbild der Demonstranten im Taxöldener Forst. | Kernenergie
4.6.1986 Erster Bundesumweltminister: Walter Wallmann vor Amtsantritt im Interview
4.6.1986 | Infolge des Reaktorunglücks von Tschernobyl in der Sowjetunion schuf die Bundesregierung eine neue Behörde: das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Erster Bundesumweltminister wurde Walter Wallmann (1932 - 2013) von der CDU. Ein Interview im Hessischen Rundfunk vom 4. Juni 1986.
12.12.1986 Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter: Umgang mit der Angst nach Tschernobyl
Am 12.12.1986 gab der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter ein Interview im NDR. Er sprach über den Umgang mit der Angst nach der Reaktorkatastrophe. Er warnte vor dem Glauben, alle Gefahren mit dem Fortschritt der Technik beherrschen zu können.
8.5.1996 In Gorleben eskalieren Castor-Demonstrationen: Statements von Angela Merkel und Jürgen Trittin
8.5.1996 | 1995 rollte der erste Castor-Transport ins Zwischenlager Gorleben. Der Atommüll kam damals vom Kernkraftwerk Philippsburg bei Karlsruhe. Schon gegen diesen ersten Castor-Zug gab es Proteste, sie waren noch vergleichsweise gemäßigt. Im Folgejahr änderte sich. Es ist der 8. Mai 1996 – die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl liegt ziemlich genau 10 Jahre zurück. Die Stimmung ist aufgeheizt, als nun die ersten Atommüllbehälter aus der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague in Gorleben ankommen. 19.000 Polizisten sichern den Transport. Wir hören ein Statement der damaligen Umweltministerin Angela Merkel (CDU) und vom Grünen Jürgen Trittin. Doch zunächst der Bericht von den Ausschreitungen. | Kernenergie
Michail Gorbatschow
12.6. 1987 Ronald Reagan in West-Berlin: "Mr. Gorbatschow, tear down this wall!"
12.6.1987 | US-Präsident Ronald Reagan ist zum Staatsbesuch in der Bundesrepublik. Er besucht West-Berlin und hält vor dem Brandenburger Tor eine Rede. Am Ende fordert er den sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbartschow auf, die Mauer abzureißen. Die Rede wird simultan übersetzt.
6.10.1989 Gorbatschow in der DDR – Kein "Wer zu spät kommt ..."
6.10.1989 | Die DDR beginnt mit den Feiern zu ihrem 40. Jahrestag. Es gibt großes Tamtam mit Militärparade und allem, was dazugehört. Doch die Krise ist unübersehbar, die Demonstrationen laut. Der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow besucht zum Jubiläum die DDR. Er ist der Hoffnungsträger der Demonstrierenden. Gorbi, hilf uns, rufen sie, und noch viel mehr. Hier ein Zusammenschnitt der wichtigsten Demonstrationsrufe. Gorbatschow selbst hört die Rufe sichtlich gerne. Später wird ihm der Satz in den Mund gelegt: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Das soll er in Bezug auf die Honecker-Regierung gesagt haben. Doch dieser Satz ist nicht im Ton überliefert. Und ob er ihn je gesagt hat, ist fraglich. Im folgenden Ton hören wir, was er tatsächlich gesagt hat. Die Szene: Gorbatschow vor der Neuen Wache Unter den Linden. Umringt von Dutzenden Reportern. Er geht auf eines der Mikrofone zu und gibt ein Statement. Da redet er zweimal über die Lehren des Lebens, aber von zu spät kommen ist nicht die Rede. Aus seinen späteren Gesprächen mit dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker gibt allerdings noch ein Protokoll. Dort wird Gorbatschow mit den Worten zitiert: Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort. Zwei Reporter machen daraus die griffige Übersetzung: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Gorbatschow erfährt davon später, und ihm gefällt das, er übernimmt den Satz in seiner Autobiografie. Funfact: Im Zusammenhang mit dem Ende der DDR gibt es noch ein zweites berühmtes Zitat, das so nie gesagt und erst nachträglich zum großen Wort hochstilisiert wurde – nämlich den Willy Brandt zugeschriebenen Satz "Es wächst zusammen, was zusammen gehört".