14.5.1986

Stellungnahme von Gorbatschow nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl

Stand
Autor/in
SWR2 Archivradio

In der ersten öffentlichen Stellungnahme der Sowjetunion nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl reagierte Michail Gorbatschow auf die Kritik des Westens. Er forderte zur internationale Zusammenarbeit in Kernenergiefragen auf.

Zwei Wochen nach der Havarie schildert Michael Gorbatschow die sowjetische Sicht der Katastrophe im Kernkraftwerk Tschernobyl. In einer knapp halbstündigen Fernsehansprache weist er auf den "außerordentlichen und gefährlichen Charakter der Geschehnisse" vor Ort hin. Er erläutert, wie es zu dem Unfall kommen konnte und versichert, dass alle Anstrengungen unternommen worden seien, um die Menschen zu informieren, die Havarie zu beseitigen und die schweren Folgen zu begrenzen.

Erste Bilanz der Katastrophe

Trotz der eingeleiteten Maßnahmen seien bei der Havarie zwei Menschen ums Leben gekommen. 299 lägen mit Strahlenerkrankungen unterschiedlichen Grades in Krankenhäusern, davon seien bereits sieben Menschen in Folge der Verstrahlung gestorben. Gorbatschow spricht allen Betroffen sein Mitgefühl aus und versichert, dass die sowjetische Regierung für die Familien der Todesopfer und Geschädigten sorgen werde.

Er könne "mit Fug und Recht [...] sagen, bei aller Schwere des Geschehenen konnte der Schaden in entscheidendem Maße, dank des Mutes und des Könnens der Menschen, dank ihrer Pflichttreue, Dank der Dynamik der Handlungen aller, die sich an der Beseitigung der Folgen der Havarie beteiligten, in Grenzen gehalten werden."

Kritik an der "Hetze" des Westens

Gorbatschow würdigt die Anteilnahme des Auslands, in erster Linie von Seiten der sozialistischen Länder. An den "Regierungen, Politikern und Massenmedien einiger NATO-Länder, besonders der USA" übt er heftige Kritik. Sie hätten eine "zügellose antisowjetischen Hetze entfacht. Was sie in diesen Tagen nicht alles redeten und schrieben, von tausenden Opfern, Massengräbern, vom ausgestorbenen Kiew, davon dass der ganze Boden der Ukraine vergiftet ist. Alles in allem haben wir es fürwahr mit einem aufgetürmten Berg gewissenloser und böswilliger Lügen zu tun."

In Bezug auf die vom Westen kritisierte Informationspolitik der Sowjetunion verwies Gorbatschow an die Adresse der USA:

"Alle erinnern sich noch daran, dass die amerikanischen Behörden zehn Tage brauchten, um den eigenen Kongress zu informieren, und Monate, um die Weltöffentlichkeit davon in Kenntnis zu setzen, welche Tragödie sich 1979 im Kernkraftwerk Three Miles Island ereignet hatte."

Ost-West-Dialog in Gefahr

Durch dieses Vorgehen behinderten die USA und ihre engsten Verbündeten den Dialog zwischen Ost und West und hätten eine Möglichkeit gefunden, das nukleare Wettrüsten zu rechtfertigen. Im Gegensatz dazu verstehe die Sowjetunion den Unfall im Kernkraftwerk als "weiteres Alarmsignal dafür, dass die nukleare Epoche ein neues politisches Denken erfordere." Der außenpolitische Kurs der Sowjetunion, der auf dem 27. Parteitag der KPdSU ausgearbeitet worden war, sei der richtige: Die vollständige Beseitigung der Kernwaffen und die Schaffung eines allumfassenden Systems der internationalen Sicherheit.

Gorbatschow führte weiter aus:

"Heute sind in verschiedenen Ländern der Welt mehr als 370 Kernreaktoren in Betrieb. Das ist die Realität. Man kann sich die Zukunft der Weltwirtschaft ohne die Entwicklung der Kernenergie schwer vorstellen. In unserem Land sind heute 40 Reaktoren mit einer Gesamtkapazität von mehr als 28 Millionen Kilowatt in Betrieb. Bekanntlich bringt das friedliche Atom der Menschheit nicht wenig Nutzen. Es versteht sich aber, dass wir alle verpflichtet sind, mit noch größerer Umsicht vorzugehen und die Anstrengung von Wissenschaft und Technik auf die Gewährleistung einer sicheren Meisterung der gewaltigen und ungeheuren Kräfte zu konzentrieren, die im Atomkern stecken."

Das Atomzeitalter fordere mit Macht ein neues Herangehen an die internationalen Beziehungen. Es gehe um die Beendigung des "todbringende Wettrüstens" und eine radikale Verbesserung des internationalen Klimas.

Reaktionen auf die Rede

Die verspätete Rede fand im Westen unterschiedliche Aufnahme. Das Echo aus Washington war vergleichsweise milde. Führende amerikanische Zeitungen gestanden dem Parteichef sogar zu, dass seine Kritik an den maßlosen Übertreibungen verschiedener westlicher Medien ihre Berechtigung habe.

Archivradio-Gespräch 26. April 1986: Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und die Folgen

Erste verschwurbelte Nachrichten, ängstliche Spargelbauern, eine hitzige Bundestagsdebatte und: Eskalation in Wackersdorf – Tonaufnahmen aus den Wochen nach der Reaktorkatastrophe 1986.

SWR2 Wissen: Archivradio SWR2

Reaktorkatastrophe von Tschernobyl

29.4.1986 Erste internationale Reaktionen auf den Reaktorunfall in Tschernobyl

29.4.1986 | Nach Bekanntwerden des Reaktorunfalls in Tschernobyl war das Informationsbedürfnis der westlichen Staaten groß. Das Korrespondentennetzwerk der ARD lieferte Informationen aus allen von der Radioaktivität betroffenen Ländern.

18. und 19.5.1986 Demonstration gegen die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf

18./19.5.1986 | An Pfingsten 1986 demonstrieren Zehntausende gegen den Bau der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. Der Rundfunkjournalist Ulrich Böken war mit dem Mikrofon vor Ort. Sein Rohmaterial zeichnet ein Stimmungsbild der Demonstranten im Taxöldener Forst. | Kernenergie

4.6.1986 Erster Bundesumweltminister: Walter Wallmann vor Amtsantritt im Interview

4.6.1986 | Infolge des Reaktorunglücks von Tschernobyl in der Sowjetunion schuf die Bundesregierung eine neue Behörde: das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Erster Bundesumweltminister wurde Walter Wallmann (1932 - 2013) von der CDU. Ein Interview im Hessischen Rundfunk vom 4. Juni 1986.

12.12.1986 Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter: Umgang mit der Angst nach Tschernobyl

Am 12.12.1986 gab der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter ein Interview im NDR. Er sprach über den Umgang mit der Angst nach der Reaktorkatastrophe. Er warnte vor dem Glauben, alle Gefahren mit dem Fortschritt der Technik beherrschen zu können.

Michail Gorbatschow

12.6. 1987 Ronald Reagan in West-Berlin: "Mr. Gorbatschow, tear down this wall!"

12.6.1987 | US-Präsident Ronald Reagan ist zum Staatsbesuch in der Bundesrepublik. Er besucht West-Berlin und hält vor dem Brandenburger Tor eine Rede. Am Ende fordert er den sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbartschow auf, die Mauer abzureißen. Die Rede wird simultan übersetzt.

6.10.1989 Gorbatschow in der DDR – Kein "Wer zu spät kommt ..."

6.10.1989 | Die DDR beginnt mit den Feiern zu ihrem 40. Jahrestag. Es gibt großes Tamtam mit Militärparade und allem, was dazugehört. Doch die Krise ist unübersehbar, die Demonstrationen laut. Der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow besucht zum Jubiläum die DDR. Er ist der Hoffnungsträger der Demonstrierenden. Gorbi, hilf uns, rufen sie, und noch viel mehr. Hier ein Zusammenschnitt der wichtigsten Demonstrationsrufe. Gorbatschow selbst hört die Rufe sichtlich gerne. Später wird ihm der Satz in den Mund gelegt: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Das soll er in Bezug auf die Honecker-Regierung gesagt haben. Doch dieser Satz ist nicht im Ton überliefert. Und ob er ihn je gesagt hat, ist fraglich. Im folgenden Ton hören wir, was er tatsächlich gesagt hat. Die Szene: Gorbatschow vor der Neuen Wache Unter den Linden. Umringt von Dutzenden Reportern. Er geht auf eines der Mikrofone zu und gibt ein Statement. Da redet er zweimal über die Lehren des Lebens, aber von zu spät kommen ist nicht die Rede. Aus seinen späteren Gesprächen mit dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker gibt allerdings noch ein Protokoll. Dort wird Gorbatschow mit den Worten zitiert: Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort. Zwei Reporter machen daraus die griffige Übersetzung: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Gorbatschow erfährt davon später, und ihm gefällt das, er übernimmt den Satz in seiner Autobiografie. Funfact: Im Zusammenhang mit dem Ende der DDR gibt es noch ein zweites berühmtes Zitat, das so nie gesagt und erst nachträglich zum großen Wort hochstilisiert wurde – nämlich den Willy Brandt zugeschriebenen Satz "Es wächst zusammen, was zusammen gehört".

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