Die Bundesrepublik ist vielfältiger, weltoffener, moderner, aber auch widersprüchlicher geworden. Das ist ja ein Kennzeichen heutiger Gesellschaften. Wir sollten aufhören, Ost und West gegeneinander zu stellen.
In "Tausend Aufbrüche" zeigt Morina ein differenziertes Bild der Ost-West-Debatte
Welche Rolle spielt 1989 eigentlich genau in der deutschen Demokratiegeschichte und was hat das mit heute zu tun? Christina Morina stellt diese Fragen und offenbart in "Tausend Aufbrüche" ein differenziertes Bild der Ost-West-Debatte. Sie untersuchte Briefe, Petitionen und Flugblätter ganz normaler Bürgerinnen und Bürger in Ost und West seit den 1980er Jahren. Daraus geht hervor, wie wichtig es vielen Menschen war, eine mündige Bürgerin oder ein mündiger Bürger zu sein. Christina Morina warnt vor den Pauschalierungen, in denen seit Jahren diskutiert wird.
Es gibt inzwischen eine Diskursindustrie, die von der Ossi-Wessi-Zuspitzung sehr gut lebt. Die Realität ist vielfältiger: Die Perspektive auf Ostdeutschland ist nicht mehr so dominant westdeutsch wie noch vor einigen Jahren, und gerade in den Institutionen der Bundespolitik sind Ostdeutsche leicht überrepräsentiert. Wir sollten endlich andere Fragen stellen – etwa, welche Verantwortung auch den Ostdeutschen zufällt, insbesondere denen in Führungspositionen.
Ossies vs. Wessies: die AfD und die Linke schneiden im Osten besser ab
In ihrem Buch "Tausend Aufbrüche" versucht Christina Morina unter anderem die Frage zu beantworten, wieso die AfD und auch die Linke in Ostdeutschland besser abschneiden als in Westdeutschland. Und auch, wie sich das Verhältnis zwischen Ost und West während der "ostdeutschen Kanzlerschaft" von Angela Merkel weiterentwickelt hat. Gibt es nach mittlerweile über 30 Jahren überhaupt eine innere Einheit?
Aber am Ende ist doch die Frage, ob es nicht gerade gut ist, eine innere Vielfalt zu haben und auf diese zu bestehen. Das machen auch manche Ostdeutsche. Viele Ostdeutsche haben aber auch recht eigensinnige politische Mentalitäten und Anschauungen, die sich in einem sehr eigensinnigen Wahlverhalten niederschlagen. Man kann sich fragen, ob das nicht eine Folge dieser vermeintlich großdeutschen inneren Einheit ist, die man da anstrebt.
Christina Morina ist Professorin für Allgemeine Geschichte an der Universität Bielefeld. Sie forscht zur politischen Kultur in Ost- und Westdeutschland.