Professor Doktor Onur Güntürkün ist Professor für Biopsychologie an der Ruhr-Universität Bochum und beschäftigt sich mit Gehirnforschung. So hat er auch die Gehirne von Vögeln erforscht.
SWR1: Tauben können sich die Gesichter von Menschen merken und sie voneinander unterscheiden. Heißt das im Prinzip, dass die Stadttaube, die ab und an vor meinem Fenster sitzt, genau weiß, dass ich das bin?
Onur Güntürkün: Ja, das bedeutet das. Sie können auch sehr gut unterscheiden, welche Gesichter mit positiven Dingen, zum Beispiel mit Futter, assoziiert sind und andere mit negativen Ereignissen, wie das Davonscheuchen. Die meisten Gesichter werden ihnen wahrscheinlich egal sein. Aber gerade die Gesichter, wo schöne oder weniger schöne Dinge passiert sind, merken sie sich sehr gut und sie können sich auch über Jahre noch an solche Sachen erinnern.
SWR1: Was können Tauben denn sonst noch alles?
Güntürkün: Sie sind auch sehr gut im Merken von einfachen Rechenzusammenhängen. Das ist jetzt sehr überhöht gesagt. Also einfache Geschichten wie zwei von fünf zu unterscheiden oder drei von vier. Das können sie ganz gut, und zwar mit allen möglichen Arten von Mustern. Sie lernen nicht die arabischen Zahlen, sondern verschiedene Arten von Objekten, entsprechend ihrer Menge zuzuordnen. Das ist eine Eigenschaft auf der Ebene von Affen.
Das Zweite ist, dass sie Orthographie ein bisschen lernen können. Das heißt, die Regeln des Schreibens. Das haben wir zum Beispiel mit neuseeländischen Kollegen getestet.
Wir haben den Tieren vier Buchstabenworte aus dem Englischen gegeben. Das Wort "Done" war eins von vielen Worten, die wir ihnen gegeben haben auf einem kleinen Monitor, den sie bepicken konnten. Dann haben wir diese und ähnliche Worte manchmal richtig geschrieben und manchmal falsch geschrieben. Die Tiere mussten nun die Worte bepicken, die richtig geschrieben wurden und die Worte nicht bepicken, die falsch geschrieben wurden.
Nun wussten die Tauben überhaupt nicht, was wir von ihnen wollten. Am Anfang lagen sie komplett auf Zufallsniveau, aber dann passiert etwas ganz Komisches: je länger man die Tiere testet, mit immer wieder neuen Worten, desto besser werden sie.
Jetzt kann es sein, dass wir ihnen auch die alten Worte, die sie schon mal hatten, gegeben haben und sie die einfach nur auswendig gelernt haben. Deshalb haben wir ihnen vollkommen neue Worte gegeben, die sie noch nie gesehen hatten. Hier war es wieder so, die Hälfte dieser Worte war richtig geschrieben, die andere Hälfte falsch. Die Tiere hatten sie noch nie gesehen und sie lagen über dem Zufall.
Das bedeutet nicht, dass sie eine 1 in Rechtschreibung bekommen hätten, aber zumindest eine 4. Und es bedeutet, dass die Tauben Regeln gelernt haben, wie englische Orthographie geht. Dann haben wir diese Regeln identifiziert und herausbekommen. Das sind tatsächlich auch die Regeln, die wir in der Grundschule lernen. Es ist so eine Art statistisches Wissen: welche Buchstaben kommen immer in welcher Reihenfolge vor und welche nicht.
Ein kleines Beispiel aus dem Deutschen: wenn Sie lesen "SC", dann erwarten sie ein "H" für den "Sch"-Laut. Wenn statt dem "H" ein "X" kommt, haben auch wir dieses Gefühl von "Das ist ein Rechtschreibfehler". Genau das machen Tauben auch.
SWR1: Jetzt sagen Sie aber auch, es gibt noch weitaus schlauere Vögel als die Tauben.
Güntürkün: Natürlich. Insgesamt sind Vögel sehr viel schlauer, als man erwartet. Die schlauesten Vögel sind Papageien und die Krähenvögel. Die können enorme Dinge, die vergleichbar sind mit dem von Menschenaffen, wie zum Beispiel Schimpansen.
Es gibt tatsächlich keine einzige kognitive Leistung, die Schimpansen lösen können, die nicht auch genauso von Krähen oder Papageien gelöst werden. Bloß mit einem entscheidenden Unterschied: der Schimpanse braucht 400 Gramm Gehirn dazu und die Vögel nur ungefähr zehn bis 15 Gramm. Trotz dieses sehr viel kleineren, aber ganz anders organisierten Gehirns, ziehen Krähen und Papageien gleich mit Schimpansen und Orang-Utans.
SWR1: Woran liegt es denn eigentlich, dass Vögel so schlau sind? War das schon immer so oder ist das auch evolutionsbedingt?
Güntürkün: Alles ist eigentlich evolutionsbedingt. Der kritische Punkt hier ist, dass Vögel sehr viel mehr Nervenzellen in ihrem kleinen Gehirn haben, als man vermutet. Das heißt, man nimmt die Gehirngröße, sagen wir mal zehn Gramm Gehirn bei Vögeln, gegen 400 Gramm Gehirn bei Schimpansen. Bei den Vögeln sind es ungefähr zwei- bis viermal so viele Nervenzellen.
Wie kriegen Vögel das hin? In der Evolution haben Vögel alles in die Bereiche investiert, in denen komplexes Denken entsteht, während wir Säugetiere, zu denen wir Menschen auch gehören, die meisten Zellen in unserem Kleinhirn haben, in dem Bewegungskoordination passiert. Dagegen haben die Vögel alles in den Bereich des Vorderhirns investiert, wo schlaue Gedanken entstehen. Vögel haben alles gegeben, um intelligent zu sein, und es ist ihnen gelungen.
Das Gespräch führte SWR1 Moderatorin Steffi Stronczyk.