Waldemar Anton verlässt den VfB Stuttgart. Und ich sage: nachvollziehbar. Sicher, mein Herz als Fußball-Fan blutet ein bisschen. Auch, wenn mir als Bayer-04-Aficionado eigentlich egal sein könnte, was in Stuttgart passiert. Trotzdem wünscht sich der Fußball-Romantiker in mir, dass all die Liebesbekundungen und die Treueschwüre in dem Business doch noch irgendetwas zählen. Schließlich ist das emotionale Video, in dem "Euer Waldi" den damals sehr verliebten VfB-Fans verkündet hat, "weiter gemeinsam im Brustring kämpfen und fighten" zu wollen, nur ein paar Monate alt.
Es ist großartig, was der VfB Stuttgart vergangene Saison aufgebaut hat - dieses Team, dieser rasante Offensiv-Fußball, diese Fans, diese Euphorie. Am Ende sprang sogar die Vizemeisterschaft dabei heraus. Was hätte daraus alles entstehen können? Nicht nur eine spannende Champions-League-Saison. Vor meinem geistigen Auge wähnte ich den VfB Stuttgart schon in einem spannenden Dreikampf um den Titel - mit Bayer und den Bayern.
Waldemar Anton ist kein Fußball-Fan
Fans führen mit ihrem Verein häufig eine Art Liebesbeziehung. Eine britische Studie will vor ein paar Jahren herausgefunden haben, dass Fans ihren Vereinen sogar treuer sind, als ihren Partnerinnen und Partnern. Und wenn ein so wichtiger Spieler wie Waldemar Anton plötzlich den Verein verlässt, fühlen sie sich betrogen. Darum stellen sie Anton jetzt als unmoralischen Söldner, widerlichen Lügner und toxischen Herzensbrecher hin. Aus Fan-Logik sicherlich verständlich.
Doch Waldemar Anton ist kein Fußball-Fan. Er ist in erster Linie Spitzensportler und Arbeitnehmer. Und als solcher folgt er einer komplett anderen Logik. Die Rechnung des Arbeitnehmers Waldemar Anton ist relativ einfach: Laut VfB-Sportvorstand Fabian Wohlgemuth kann Anton "seine wirtschaftliche Situation derart signifikant verändern", dass es fast fahrlässig wäre, das Angebot von Borussia Dortmund nicht anzunehmen.
Die VfB Stuttgart 1893 AG ist auch nur ein Arbeitgeber
Und sorry, liebe Fußball-Fans: Aber nach Arbeitnehmer-Logik tauschen Fußballer ihre Leistung gegen Geld. Demnach ist der VfB Stuttgart als Arbeitgeber genauso einzustufen, wie die Landesbank, Bosch, oder die Postbeamtenkrankenkasse - nur dass die VfB Stuttgart 1893 AG keine Werkzeuge oder Finanzdienstleistungen verkauft, sondern Zeitvertreib, Emotionen, Heimat und Identifikation.
Freilich ist Geld nicht alles. Sportlicher Erfolg, Legendo-Status oder der Spaß am Zocken in einem coolen Team sind ebenso verfolgenswerte Ziele.
Waldemar Anton hat sportlich alles richtig gemacht
Da kommt die Logik des Spitzensportlers zum Tragen: Der will das Beste aus sich herausholen und strebt nach dem maximal möglichen Erfolg. Auch nach dieser Logik hat Anton mit seinem Wechsel sehr viel richtig gemacht. Klar, der VfB Stuttgart ist Vizemeister, und Borussia Dortmund ist als Tabellenfünfter gerade so in die Champions League gestolpert. Aber das war im Mai.
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Das hatte sich alle Beteiligten anders vorgestellt. Während seine vermeintlich neuen Dortmunder Kollegen am Donnerstag ins Teamtraining einsteigen, kehrt Serhou Guirassy zurück nach Stuttgart.
Im Juli hat der VfB Stuttgart Hiroki Ito an den FC Bayern München verloren. Serhou Guirassy wechselt ebenfalls zu Borussia Dortmund. Deniz Undav ist aktuell bei Brighton & Hove Albion unter Vertrag, und bei Nationalspieler Chris Führich ist nicht hundertprozentig klar, ob er nach der EURO 2024 wieder an den Neckar zurückkehrt oder ebenfalls ein höheres Gehalt anstrebt.
Waldemar Anton hat einen Arbeitsvertrag gekündigt
Zwar sind mit Alexander Nübel, Angelo Stiller und allen voran Trainer Sebastian Hoeneß wichtige Stützen der Erfolgssaison geblieben und Sportvorstand Fabian Wohlgemuth scheint solide eingekauft zu haben. Doch angesichts des personellen Ausverkaufs wird sich der Überraschungserfolg des VfB Stuttgart nur schwer wiederholen lassen. Die Chancen Antons, als Nachfolger von Abwehrchef Mats Hummels dauerhaft in der Champions League gegen die Crème de la Crème des europäischen Fußballs anzutreten und sogar mal einen Pokal in Händen zu halten, sind in Dortmund deutlich höher als in Stuttgart - vor allem nach der Transferoffensive des BVB.
Ich nehme es Waldemar Anton ab, dass diese Entwicklung noch nicht absehbar war, als er seinen Vertrag im Winter beim VfB Stuttgart verlängert hatte. Jetzt hat er seine Situation neu bewertet und seinen Arbeitsvertrag gekündigt. It is as easy as that. Denn ein Arbeitsvertrag ist schließlich kein Eheversprechen.
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Das Fan-Herz ist nachtragend
An Antons Stelle würde ich jedoch mal über meine Eigen-PR nachdenken. Denn nach Arbeitnehmer- und nach Spitzensportler-Logik war es eigentlich absehbar, dass all die Liebesschwüre und Treuebekundungen sofort nach hinten losgehen, sobald er ein lukratives Angebot annimmt. Denn das Fan-Herz reagiert bei Liebesentzug immer sehr empfindlich - und es ist nachtragend.
Und wenn sich "Euer Waldi" in einem der ersten Instagram-Posts als Spieler von Borussia Dortmund so sehr freut, "endlich Teil von euch zu sein" und künftig "Siege vor der gelben Wand feiern" zu dürfen, ist der Schmerz der verschmähten VfB-Fans besonders groß. Von daher hat Waldemar Anton nicht alles, aber sehr vieles richtig gemacht.