Die Eltern-Initiative für eine Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium in Baden-Württemberg hat genügend Unterschriften für einem Volksantrag gesammelt. Nun muss sich auch der Landtag in Baden-Württemberg mit dem Thema befassen. Was sagt die Wissenschaft zu den Vor – und Nachteilen des Turboabiturs?
Einführung von G8-Abitur erfolgte primär aus ökonomischen Gründen
Zunächst mal ist unbestritten- die Reform wurde bundesweit eingeführt, obwohl es zuvor keinerlei belastbare und generalisierbare empirische Befunde zum Abitur nach zwölf Jahren Schulzeit gab. Das Ziel der Schulzeitverkürzung war ein ökonomisches. Die Abiturienten sollten durch die Schulzeitverkürzung ein Jahr früher ihre Berufsausbildung beginnen und entsprechend früher Steuern und Sozialabgaben zahlen.
Gleichzeitig wurde gefordert, dass die kürzere Schulzeit nicht zu einer Qualitätsminderung des Abiturs führen dürfe. So ist die Vorgabe, trotz Wegfall eines Unterrichtsjahres dieselbe Stoffmenge zu vermitteln. Deshalb wurden in die acht Jahre des Turboabiturs die gleiche Zahl an Unterrichtsstunden gepresst, die sich früher locker auf 9 Jahre aufteilten, das führt in der Oberstufe oft zu Stundenplänen mit 36 Unterrichtsstunden pro Woche- und da sind noch keine Hausaufgaben oder Klausurvorbereitungen drin.
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Bessere Fremdsprachkompetenz im G9-System
Zur fachlichen Kompetenz von G8 und G9 Absolventen gibt es mehrere Studien, die sich allerdings fast alle auf den Doppeljahrgang von G8- und G9-Absolventen beziehen und damit einerseits recht alt sind und zum anderen- und das wiegt schwerer- wegen der politischen Unterstützung des Turboabiturs – vermuten Bildungsforscher eine Verzerrung der Studienergebnisse.
So kommt die erste Studie aus Baden-Württemberg 2015 zu dem Schluss: In den naturwissenschaftlichen Kompetenzen unterscheiden sich G8- und G9-Abschlussklassen kaum. Dafür liegen in Fremdsprachen- vor allem in englisch - die mit dem 13-jährigen Abitur klar vorn. Aber die G8-Schülerinnen und Schüler fühlten sich stärker belastet und klagen über weniger Zeit für ihre Freunde, Nebenjobs, Sport. Außerdem zeigen sie mehr gesundheitliche Beschwerden.
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Mehr Stress bei verkürztem Abitur
Gerade diese Studie von 2015 hat die Initiative für einen Volksantrag zum G9 in Baden-Württemberg ziemlich kritisch unter die Lupe genommen und beklagt, dass trotz der teilweise durchaus negativen Ergebnisse das Fazit gezogen wurde- es gebe keinen signifikanten Unterschied zwischen dem Abitur mit acht und dem mit neun Jahren. Die Initiative kritisiert hier zurecht: Es wird schon als Erfolg gefeiert, wenn zu den G9-Absolventen kaum Unterschiede bestehen.
2020 hat schließlich eine Übersichtstudie der Stiftung Mercator die vorhandene Forschungsliteratur zum Turboabitur gesichtet. Auch nach diesem Stand gibt es keine belastbaren Unterschiede zwischen G8- und G9-Abiturientinnen und -Abiturienten, was das fachliche Wissen angeht. Aber der Stress und die Belastung sind beim Turbo-Abitur eindeutig gewachsen. Das belegt auch eine Studie auf der Basis von Daten der gesetzlichen Krankenversicherung.
Demnach hat die G 8 Reform stressbedingte Gesundheitsprobleme bei Schulkindern eindeutig verstärkt. Die jüngste Studie aus Baden-Württemberg aus dem Jahr 2022 kommt zu dem Schluss, dass sowohl Mädchen als auch Jungen nach der G8-Reform ein wesentlich höheres Stressniveau und einen schlechteren Gesundheitszustand angeben. Und das Tübinger Forschungsteam weist daraufhin: Dieser Anstieg ist bei Mädchen nochmal meßbar größer als bei Jungen.
Nach G8 nehmen Schülerinnen und Schüler seltener ein Studium auf
Die Annahme, dass das G 8 der Wirtschaft und Gesellschaft nun mehr ökonomische Vorteile bringt, hat sich nicht bestätigt. Stattdessen stieg die Zahl der Klassenwiederholungen – vor allem in der Oberstufe. Eine Studie des DIW Berlin hat die Studierenden unter die Lupe genommen und zieht das negative Fazit: Abiturientinnen und Abiturienten, die ihren Abschluss nach zwölf statt 13 Schuljahren erreichen, nehmen nach dem Abitur etwas seltener ein Studium auf.
Und diejenigen, die sich für ein Studium entscheiden, legen vor dem Uni-Start häufiger eine Pause ein, wechseln innerhalb des ersten Studienjahres mit einer höheren Wahrscheinlichkeit das Studienfach oder brechen ihr Studium ab.