Ausgangssperren, Kontaktverbote – klare Anweisungen in unsicheren Zeiten
Eines wird im März 2020 schnell klar: Die Corona-Pandemie ist ernst und hat Auswirkungen auf alle. Dennoch bleibt Angela Merkel unnachahmlich sachlich, setzt auf den Verstand und die Verantwortung aller, statt auf Panikmache. Das wird insbesondere in ihrer ersten Rede am 18.3.2020 deutlich. Ganz anders die Töne aus Bayern: Markus Söder ruft bereits am 16.3.2020 den Katastrophenfall aus. Er beschließt scharfe Ausgangsbeschränkungen und strikte Kontaktverbote.
Am 28. März ziehen Bundesregierung und Kanzlerin nach – mit der ersten und wichtigsten Gesetzesänderung im Jahr 2020. Bis dahin lag die Verantwortung für den Infektionsschutz in Deutschland noch bei örtlichen Gesundheitsbehörden. Eine Änderung im Infektionsschutzgesetz ermächtigt den Bundesgesundheitsminister jetzt, ohne Zustimmung des Parlaments Quarantänemaßnahmen zu verhängen, Arzneimittel zu rationieren oder Pflegepersonal zwangszuverpflichten.
Die strengen Maßnahmen treffen in der Bevölkerung auf überraschend große Zustimmung – anfangs zumindest, eine Schlussfolgerung der Statistikerin Annelies Blom, die sie mithilfe der sogenannten Mannheimer Corona-Studie gezogen hat. Laut der täglichen Erhebung vom 20. März bis 10. Juli 2020 begrüßten zunächst 80 Prozent der Bevölkerung Veranstaltungsverbote, Schließung der Grenzen und öffentlichen Einrichtungen. In unsicheren und angstvollen Zeiten, und das treffe auf den Beginn der Corona-Krise zweifellos zu, möchten viele Menschen klare Anweisungen. Ein starker Staat vermittle dann Sicherheit, so Blom.
Eilverfahren entscheiden über Rechtmäßigkeit der Corona-Maßnahmen
Noch im ersten Lockdown ändert sich das jedoch zunehmend. Die persönliche Angst vor dem Virus beginnt zu schwanken und es gibt nicht mehr nur klare Befürworter und Gegner der Lockdown-Maßnahmen. Stattdessen werden die Rufe nach Differenzierung in der Bevölkerung immer lauter. Einzelne Verbote werden hinterfragt, man fordert eine klare zeitliche Befristung der Grundrechtseinschränkungen. Und Juristen wie Andreas Voßkuhle, damals noch Präsident des Bundesverfassungsgerichts, verweisen auf die erforderliche Verhältnismäßigkeit aller Maßnahmen.
Über die Rechtmäßigkeit der Einschränkungen haben im Zweifel die Gerichte zu entscheiden. Schon Mitte Mai 2020 gibt es über 100 Eilentscheidungen. Zwar werden viele Einschränkungen für rechtlich in Ordnung befunden, einzelne Demonstrations- und Reiseverbote, Geschäftsschließungen oder die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Maske teilweise aber wieder aufgehoben.
Deutschland wird zum Corona-Flickenteppich
Doch auch die zunehmende Differenzierung der Corona-Maßnahmen zwischen Bundesländern, Landkreisen, Stadtteilen und auch Wirtschaftssektoren bringt Probleme: Hier schließen die Schulen, dort bleiben sie auf. Buchhändler dürfen öffnen, Schreibwarenläden nicht. Die Öffentlichkeit kritisiert die unübersichtliche Situation oft als Flickenteppich, viele empfinden die unterschiedlichen Regeln als ungerecht. So wird die Corona-Pandemie zur Grundsatzdiskussion über Föderalismus und Einheitlichkeit.
Der Verfassungsrechtler Oliver Lepsius ist mit dieser Diskussion vertraut. Insbesondere wenn es um Regeln gehe, verlange die Bevölkerung eine strikte Gleichbehandlung. Diese Forderung sei tief verwurzelt, beispielsweise auch in Steuerrechtsdebatten. Jedoch sei eine rigide Gleichbehandlung ebenfalls mit Ungerechtigkeiten verbunden und wenig pragmatisch. So macht es wenig Sinn, alle Schulen eines Landkreises zu schließen, weil es viele Infektionen in einer Fleischfabrik gegeben hat. Denn für das Ziel, Infektionen zu verhindern, ist die Schulschließung in diesem Fall weder geeignet noch angemessen. In einem benachbarten Landkreis mit gleicher Inzidenz, aber diffusem Infektionsgeschehen, kann eine Schulschließung dagegen durchaus verhältnismäßig sein. Der Föderalismus lasse als sehr gute organisatorische Voraussetzung den nötigen Spielraum für passende Regeln und Reaktionen, so Lepsius.
April 2021: Bundesnotbremse beendet Bund-Länder-Konferenzen
In der dritten und härtesten Corona-Welle kommt es schließlich zum Scheitern der monatelangen Entscheidungsfindung in stundenlangen Bund-Länder-Konferenzen, einem Gremium, das unsere Verfassung überhaupt nicht vorsieht. Regeln, die dort festgelegt wurden, hatten einzelnen Ministerpräsidenten schon Stunden später wieder relativiert. Und die höchste direkt gewählte Instanz, nämlich der Bundestag, wurde gar nicht einbezogen.
Im April 2021 geben Bundesregierung und Länder ihre Sonderrolle wieder ab. Die sogenannte Bundesnotbremse verlagerte die Entscheidungsgewalt über Lockdown-Maßnahmen zurück an den Bundestag. Jetzt wird die Inzidenz zum Kriterium für alle Corona-Maßnahmen. Das hat die föderalistischen Alleingänge einerseits beendet, andererseits aber weitere Differenzierungen ermöglicht. Deutschland bleibt zwar ein Flickenteppich, aber immerhin nach einheitlichen Kriterien.
Dialog mit Wissenschaft und Öffentlichkeit erhöht Akzeptanz der Bevölkerung
Mit einheitlichen Kriterien ging der Bundesgesundheitsminister auch das Thema Impfen an. Bezüglich der Frage, wer mit „höchster Priorität“ den Pieks bekommen durfte, hatte der Deutsche Ethikrat eine entscheidende Rolle gespielt. So macht insbesondere die Impfkampagne deutlich, wie die Politik während der Krise auf Expertinnen und Experten gehört hat – oder eben auch nicht. Deutlich konflikthafter ging es nämlich zwischen der Bundesregierung und der Ständigen Impfkommission zu, nachdem anfangs noch keine Impf-Empfehlung für Kinder und Jugendliche vorlag, die Politik aber baldmöglichst eine wollte.
Dennoch blieb die politische Rhetorik in Deutschland vergleichsweise gemäßigt. Wir sind im Krieg, wählte Emmanuel Macron ganz andere Worte, der Feind unsichtbar, die Generalmobilmachung unabdingbar. Da sich ein Virus aber nicht von Kanonen beeindrucken lässt, folgten Macrons martialischer Rede scharfe Ausgangsverbote. Doch Polarisieren und Entscheidungen im Alleingang seien keine Lösung, so Oliver Lepsius. Denn dann sei die Akzeptanz in der Bevölkerung meist nicht allzu groß.
USA, Großbritannien, Frankreich: „Bestens vorbereitet“
Welche Länder sind am besten auf eine Pandemie vorbereitet? Ein Forschungskonsortium unter Führung der Johns-Hopkins-Universität erstellt seit Jahren regelmäßig ein Ranking zu dieser Frage – den Global Health Security Index (GHS-Index). Auf den Spitzenplätzen standen dort ausgerechnet die USA, Großbritannien und Frankreich – jene Länder, die in der Corona-Krise besonders viele Opfer zu beklagen haben. Deutschland dagegen galt als nur mittelmäßig auf eine Pandemie vorbereitet.
Tatsächlich gibt es aber kein vergleichbares Land, das besser durch die Krise gekommen wäre als Deutschland. Zum Vergleich: In Schweden hat das Virus 40 Prozent mehr Opfer pro 100.000 Einwohner gefordert, in Frankreich 70 Prozent, in Großbritannien 96 Prozent, in Belgien, Italien und den USA sogar mehr als doppelt so viele. Werden diese Zahlen zusammen mit der Übersterblichkeit, der Härte der Lockdown-Maßnahmen und dem Rückgang der Wirtschaftsleistung betrachtet, sind nur Dänemark, Taiwan, Neuseeland und die Schweiz noch besser durch die Krise gekommen.
Im Home-Office deutlich: Hausfrauenmodell hält sich hartnäckig
Doch nicht nur das Gesundheitssystem wurde auf eine harte Probe gestellt. Die Krise deckte auch deutlich auf, wo die deutsche Gesellschaft hinterherhinkt: Im Bildungswesen, bei der Digitalisierung, deutlich auch bei der Gleichberechtigung. So beschreibt es die Soziologin Mareike Bünning. Noch immer bestehe das Hausfrauenmodell in vielen Köpfen weiter. Selbst wenn beide Elternteile im Home-Office waren, hätten deutlich mehr Frauen die Kinderbetreuung und Hausarbeit übernommen. Vorbilder sieht Bünning hingegen in den skandinavischen Nachbarländern. Hier bezog man die Situation erwerbstätiger Eltern mit ein und ließ Schulen und Kitas so lange wie möglich auf, statt sie mit einem Schlag zu schließen.
In anderen Bereichen hat Corona gezeigt, dass schnelle Änderungen möglich sind. Schwarze Null, Schuldengrenze – was zuvor als alternativlos galt, wurde plötzlich außer Kraft gesetzt. Auch in persönlichen Bereich hat die Krise viele Veränderungen verlangt. Und die fordern Mut und Überwindung, so die Soziologin Yasemin El-Menouar. Genau das habe die Corona-Pandemie uns in gewisser Weise abgenommen. Wenn eine Krise hautnah zu spüren sei, könne die allgemeine Veränderungsbereitschaft offenbar sehr groß werden.
Wappnet Corona uns für kommende Krisen?
Das würde Hoffnung machen für die Bewältigung kommender Krisen, vor allem hinsichtlich der Klimakrise. Nur ist nicht jede Krise gleich. So viel uns Corona auch gelehrt hat, wir können die Anforderungen und Strategien der letzten 18 Monate nicht auf alle Krisen der Zukunft übertragen. Der Klimawandel ist zwar langfristig gefährlicher, schon allein, weil er nicht nach zwei Jahren überstanden ist, aber er kommt schleichend und ist nicht plötzlich da wie ein tödliches Virus. Damit stellt er für die meisten Menschen keine unmittelbare, sondern nur eine mittelbare Bedrohung dar. Es gibt keine einfachen Maßnahmen wie Maske oder Impfen, mit denen man sich schützen kann.
In insgesamt elf Folgen haben wir uns in SWR2 Wissen Spezial mit Deutschland und seinen Regeln befasst – in der Verwaltung, auf dem Arbeitsmarkt, im Baurecht, in der Bildung, beim Datenschutz, im Alltagsleben und zuletzt während der Corona-Krise. Oft haben wir dabei von unlogischen und widersprüchlichen Vorschriften, bürokratischen Hürdenläufen und nervigem Papierkrieg gehört. Seit die Corona-Pandemie unseren Alltag prägt, ist häufig auch von fehlender Verhältnismäßigkeit und Unübersichtlichkeit die Rede. Viele Regeln haben sich aber auch als sinnvoll und nützlich erwiesen. Sie schaffen Gerechtigkeit, verhindern Diskriminierung, sorgen für Sicherheit und gewährleisten Versorgung für alle. Und auch das zeigte die Corona-Krise: Deutschlands Regeln konnten sich auch in der Ausnahmesituation recht gut bewähren.