Zwanghaftes Kalorienzählen – statt 2000 noch 150 kcal am Tag
Je dünner, desto besser. Meist sind es junge Mädchen, doch immer häufiger auch Jungen, die im Alter von 15 bis 17 Jahren an Magersucht, auch Anorexia nervosa genannt, erkranken. Aus dem anfänglichen Wunsch heraus, schlanker zu werden, schleichen sich schnell gefährliche Verhaltensmuster ein: zwanghaftes Kalorienzählen, strenger Verzicht, dazu exzessives Sporttreiben. Mit eisernem Willen kämpfen Betroffene gegen ihr natürliches Bedürfnis, zu essen, fürchten jedes Gramm mehr und kontrollieren und dokumentieren ihr Gewicht mehrmals täglich.
Auch die 21-jährige Jana erkrankte an Magersucht. Mit extremer Disziplin, so beschreibt die junge Frau, hungerte sie sich ins Untergewicht, aß am Ende gerade mal um die 150 Kalorien am Tag. Zum Vergleich: Eine erwachsene Frau hat einen täglichen Energiebedarf von circa 2000 Kalorien.
Mangelerscheinungen, Organversagen, Suizidgefahr – gefährliche Folgen der Magersucht
Mögliche Folgen einer Anorexia nervosa sind nicht nur Gewichtsverlust und Mangelernährung, auch der psychische Leidensdruck der Betroffenen ist enorm. Permanentes Zügeln und Verbieten rauben jegliche Lebensfreude. Die Angst, etwas essen zu müssen, führt häufig zu sozialem Rückzug, sodass oftmals Depressionen und erhöhte Suizidalität mit einer Magersucht einhergehen.
All das mache die Krankheit so gefährlich, fasst Stephan Zipfel besorgt zusammen. Als ärztlicher Direktor der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Uniklinik Tübingen kennt er die verheerenden Konsequenzen einer Anorexia nervosa: Der Körper erkrankter Menschen baue langsam ab. Die dauerhafte Unterversorgung lebensnotwendiger Nährstoffe führe zu Organversagen und Herzrhythmusstörungen, im schlimmstenfalls zum Tod. Und das sei bei zehn Prozent der diagnostizierten Essstörungen der Fall.
Angst vor der Krankheit, Angst vor mehr Gewicht
Obwohl im Gegensatz zu anderen psychischen Krankheitsbildern Therapieansätze vorhanden sind, stellt die erfolgreiche Behandlung der Anorexia nervosa eine Herausforderung dar. Die Hauptschwierigkeit liege in der inneren Zerrissenheit der Betroffenen, beschreibt es Marianne Sieler, Sozialpädagogin der Beratungsstelle für Essstörungen in Stuttgart, der ABAS. Einerseits sei der Leidensdruck irgendwann so erheblich, dass viele Patienten und Patientinnen sich freiwillig in Therapie begeben. Andererseits habe die Krankheit zu diesem Zeitpunkt meist eine Funktion in ihrem Leben übernommen und das zwanghafte Verhalten sei Teil des persönlichen Selbstbildes geworden. Ein Kampf gegen sich selbst. Das beeinträchtige die Motivation, an der Störung zu arbeiten, erheblich, so Sieler.
Meist helfe nur ein klinischer Aufenthalt, um den Teufelskreis aus Hungern und Sportzwang zu durchbrechen. Das Problem: Die Klinikplätze sind rar. Nur diejenigen, die den gängigen Richtlinien nach als untergewichtig eingestuft werden, haben die Chance auf eine stationäre Aufnahme. Dann ist es jedoch oft schon zu spät und die gefährlichen Denk- und Verhaltensmuster fest verankert.
Mit Home Treatment und Telemedizin gegen die hohe Rückfälligkeit
Auch Stephan Zipfel klingt nicht allzu optimistisch, wenn er von der aktuellen Therapielage bei Essstörungen spricht. In Langzeitstudien verglich er die Wirksamkeit und Rückfallquoten der gängigen Behandlungsformen: Jede fünfte Patientin kommt auch nach einer absolvierten Therapie vom gezielten Hungern nicht los. Die Angst vor einer Gewichtszunahme scheint zu bleiben. Dasselbe berichtet Jana, die bereits während ihres Klinikaufenthalts heimlich über Mittel und Wege einer erneuten Diät nachgedacht habe.
Wie lassen sich derartige Rückfälle vermeiden? Die Uniklinik Tübingen beispielsweise führte innerhalb einer Studie einen Modellversuch durch: SUSTAIN. Das ist ein telemedizinisches Nachversorgungsprogramm, das die Fortführung der Behandlung der Betroffenen auch nach der Entlassung ermöglicht, zum Beispiel über Gesprächstherapie per Videokonferenz.
Eine poststationäre Begleitung der Patientinnen und Patienten sei für die langfristige Bekämpfung der Anorexie entscheidend, so betont es auch Beate Herpertz-Dahlmann, die Direktorin der Aachener Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. Das Setting „zu Hause“ könne anorektische Verhaltensweisen erneut triggern, die erlernten Inhalte der klinischen Gesprächs- und Körperbehandlung seien oft nur schwer in die eigenen vier Wände integrierbar. Um die Betroffenen genau hierbei zu unterstützen, plädiert Herpertz-Dahlmann für ein Konzept des Home Treatment: Ein mobiles psycho- und ergotherapeutisches Team besucht die Entlassenen zu Hause und bietet Unterstützung bei der Rückkehr in den Alltag. So könne auch die Rolle der Familie erkannt und angesprochen werden.
Erlerntes Verhalten oder geerbte Krankheit?
Die Gründe für eine Magersucht werden seit langem untersucht. Jedoch sind diese bis heute nicht vollends geklärt: Ist es das soziale Umfeld, das die essbezogenen Verhaltensmuster auslöst? Das könnten zum Beispiel schwierige Familienverhältnisse oder hoher Leistungsdruck von außen sein. Oder spielen doch die Gene eine größere Rolle als bisher angenommen?
Dieser Verdacht kommt auch für Stephan Zipfel nicht von ungefähr. Oftmals häuften sich Fälle von Magersucht innerhalb von Familien. Hatte die Mutter in ihrer Jugend ein problematisches Verhältnis zu Essen und zum Körper, so sei eine Erkrankung bei den Kindern sehr wahrscheinlich. Insgesamt glaubt Zipfel an eine Interaktion bestimmter Gene, die das Risiko einer Magersucht erhöhten – definitiv sagen lasse sich das allerdings noch nicht. Zu komplex sei die Krankheit und zu vielfältig die möglichen zugrundeliegenden Faktoren.
Im Neoprenanzug den Körper wieder fühlen lernen
Das zeigen auch die neuesten Forschungserkenntnisse von Beate Herpertz-Dahlmann. Sie ist Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters in Aachen. Zusammen mit ihrem Team enthüllte sie die entscheidende Funktion von Hormonen bei der Appetitregulation.
Eine große Bedeutung habe auch das Mikrobiom, also die Zusammensetzung der Darmbakterien. Dieses trage zur Gewichtsregulation bei, so Herpertz-Dahlmann. Sie sieht hier großes Potential für neue Therapieansätze: So könne man beispielsweise über Verabreichung intakter Bakterienstämme eine veränderte Darmflora wieder herstellen. Ein gesundes Mikrobiom für ein gesundes Essverhalten, das wäre die Idee dahinter.
Auch Martin Grunwald folgt der Darm-Gehirn-Achse und geht in der Behandlung anorektischer Patientinnen und Patienten neue Wege. Der Psychologe am Haptik-Forschungslabor der Universität Leipzig untersuchte den Zusammenhang zwischen einer Essstörung und der fehlerhaften Wahrnehmung des eigenen Körpergefühls, des sogenannten Körperschemas. Da die hierbei neuronalen Prozesse unbewusst verlaufen und von außen kaum feststellbar sind, bliebe eine Körperschemastörung oftmals ein Leben lang bestehen, so Grunwald. Um die verzerrte Wahrnehmung seiner Patientinnen und Patienten umzuschulen, setzte er Neoprenanzüge ein. Diese „zweite Haut“ helfe, die eigenen Körpergrenzen neu zu erfahren.
Ein Fünftel aller Jugendlichen zeigt Anzeichen einer Essstörung
Treten derartige Verhaltens- und Körperwahrnehmungsstörungen auf, ist eine Essstörung meist bereits weit fortgeschritten. Gerade bei Anorexie ist allerdings Prävention besonders wichtig. Auffälliges oder gestörtes Essverhalten schleicht sich nämlich schon in früher Jugend ein. Laut Studien des Robert Koch-Instituts besteht bereits bei einem Fünftel aller 11- bis 17-Jährigen in Deutschland der Verdacht auf eine Essstörung.
Beate Herpertz-Dahlmann begründet diesen alarmierenden Befund vor allem mit propagierten Schönheitsidealen. Das ganze Internet sei voller vermeintlich perfekter Körper und bereits 11-, 12-Jährige orientierten sich an diesen. Die Corona-Pandemie habe diese Orientierung noch verstärkt.
In einem sind sich alle Expertinnen und Experten einig: Schlüssel für ein gesundes Verhältnis zum Essen, zum Sport und eigenen Körper ist ein positives Selbstbild: Jede Person ist anders und niemand ist perfekt - Abweichungen nach oben und unten seien vollkommen normal. Das müsse bereits im Kindergartenalter vermittelt werden.
SWR 2021